Fast sechs Jahre Haft erhielt ein 24-Jähriger nach einem Tötungsversuch. Seinem Opfer hatte er den Schädel gespalten, es überlebte knapp. Eine Geschichte über Kindheitstraumata und eine Art Kurzschlussreaktion.
Region (här). Auf der Anklagebank sitzt ein stattlicher junger Mann: groß, schlank, offenes Gesicht, kurzes, blondes Haar, 24 Jahre alt – und bleich, sehr bleich. Erster Gedanke: Kann keiner Fliege was zuleide tun.
Doch der Prozess vor dem Landgericht Rottweil spricht eine andere Sprache: Dieser Jüngling hat in der Tuttlinger Nordstadt einem Kontrahenten mit einer Axt den Schädel gespalten, den Bauch aufgeschlitzt und fast die linke Hand abgehackt. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und elf Monaten.
Warum ist ein bis dahin unauffälliger Mensch zu so etwas fähig? Die Probleme beginnen in frühester Kindheit: Mark Ionescu (Name von der Redaktion geändert) wächst in Rumänien auf, die Mutter ist Lehrerin, der Vater Alkoholiker und gewalttätig, regelmäßig schlägt er Frau und Sohn.
Als die Familie nach Deutschland umsiedelt, erweist sich der neue Kulturkreis für den Vierjährigen schnell als Überforderung. Er verweigert das Essen und muss zu den Großeltern zurückgeschickt werden, wo er sich geborgen fühlt. Nach einem Jahr kehrt Ionescu zurück und kämpft sich hoch, trotz der Schläge des Vaters und der Probleme der Mutter, die hier nicht als Lehrerin arbeiten darf, sich aber für keine Arbeit zu schade ist. Ende der 90er-Jahre zieht die Familie nach Tuttlingen.
Ionescu schafft zunächst den Realschul-Abschluss, dann die Hochschulreife, geht zu Bundeswehr, entwickelt sich gut – bis zur nächsten Katastrophe: Er verletzt sich bei einer Sportprüfung so schwer am Fuß, dass er ausgemustert wird. Zurück bleiben chronische Schmerzen.
Marihuana verschafft ihm Erleichterung, so kommt er auf die Idee, Cannabis anzubauen. Das ist der Anfang vom Ende. Er gerät in Kontakt mit der Drogenszene.
Trotzdem gelingt der Neuanfang als Hilfsarbeiter. Bald beginnt er eine Lehre, der Chef lobt ihn als besten Mann. Doch die falschen Freunde aus der Szene lassen ihn nicht mehr los. Einem, Karl Müller (Name von der Redaktion geändert), leiht er mühsam von der Familie ersparte 8000 Euro.
Als er das Geld zurückfordert, weil sein Opa querschnittsgelähmt ist, nach Tuttlingen geholt und gepflegt werden soll, eskaliert die Lage: Am Abend des 30. Oktober 2014 kommt es zum Streit. Ionescu will sich die 8000 Euro notfalls mit Gewalt holen und bewaffnet sich mit einer Axt. Und als sein Kontrahent ihn demütigt, bis aufs Blut reizt und ankündigt, seiner Mutter den Kopf abzuschneiden, da schlägt er wie von Sinnen wuchtig zu, mindestens elf Mal, davon fünf Mal auf den Kopf und ins Gesicht.
Jeder Schlag hätte tödlich sein können, wie ein Gutachter vor Gericht erklärt. Doch Müller überlebt wie durch ein Wunder. Sein Glück: Das Gehirn ist nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Er sitzt als Nebenkläger im Gerichtssaal. Eine Titanplatte hält den Schädel zusammen, entlang der linken Gesichtshälfte zieht sich eine Narbe, er ist in ärztlicher Dauerbehandlung, kann mehrere Finger der linken Hand nicht bewegen, zwei Rippen sind zusammengewachsen.
Der Angeklagte zeigt Reue und entschuldigt sich beim Opfer und dessen Familie. Der psychiatrische Sachverständige erklärt die Tat mit einer Art Kurzschlussreaktion, die auf nicht verarbeitete Kindheitserlebisse zurückzuführen sei.
Es bleibt nicht bei der Gefängnisstrafe. Der Täter muss auch für die Kosten des Verfahrens tragen und für Schadenersatz aufkommen. Nach Ansicht von Experten kommt insgesamt ein hoher sechsstelliger Betrag zusammen.
Das Opfer ist arbeitsunfähig, wann und ob der junge Mann. wieder ins Erwerbsleben einsteigen kann, ist ungewiss.