Die Gemeinschaftsschule, und dabei das Konzept des „individuellen Lernens“, wird derzeit in konservativen Blättern heftig kritisiert. Ein „Irrweg, der unverzüglich aufgegeben werden“ müsse sei das Ganze, zitiert der „Schwarzwälder Bote“ den Kölner Privatdozenten Matthias Burchardt beispielsweise.
SCHRAMBERG (him) – Die NRWZ fragte den Leiter der Erhard-Junghans-Schule, Udo Trost, nach seinen Erfahrungen. An dieser Schramberger Schule werden eine Realschule und eine Gemeinschaftsschule im Schulverbund betrieben.
NRWZ: Herr Trost, welche Erfahrungen haben Sie mit dem individuellen Lernen gemacht?
Trost: Gute. Es ist ja keinesfalls so, dass die Kinder immer nur an Einzelarbeitsplätzen sitzen und ihre Aufgabenblätter oder ‚Lernjobs‘ abarbeiten. Das wäre ja widersinnig, denn wir legen Wert auf Vielfalt in der Klasse und dass kommuniziert wird und die Schüler miteinander arbeiten.
Wie sieht der Unterricht also konkret aus?
Er ist gedrittelt: Ein Drittel sind Präsentationsphasen, entweder durch den Lehrer oder durch Schüler, ein Drittel sind kooperative Lernformen, also beispielsweise Gruppen- und Projektarbeit, und nur ein Drittel entfällt auf das individualisierte Lernen.
Welcher Gedanke steckt da dahinter?
Wenn ich sehr unterschiedliche Schüler vor mir habe, ist es wichtig, dass jeder Erfolgserlebnisse hat. Nur durch Erfolgserlebnisse wird er motiviert, weiter zu arbeiten. Ich brauche also für unterschiedliche Schüler unterschiedliche Aufgaben. Es geht also nicht darum, eine bestimmte Zahl von Lernjobs in einer bestimmten Zeit abzuarbeiten.
Können die Lehrer den Lernerfolg denn wirklich überprüfen?

Die Schüler bekommen in den ‚Coaching-Gesprächen´ eine Rückmeldung. Einmal pro Woche schauen die Lehrer mit den Schülern einzeln an, was sie gemacht haben, und besprechen, wie er oder sie weiterarbeiten soll. Bei den einzelnen Lernaufgaben können sich die Schüler ein Lösungsblatt holen, wenn sie die Aufgabe erledigt haben, und schauen, wie gut oder schlecht sie abgeschnitten haben.
Überfordert das nicht die Kinder?
Nein. Die Idee ist, dass sie selbständiger werden. Wenn sie sehen, dass eine Aufgabe zu schwierig ist, melden sie sich beim Lehrer. Dann bekommen sie eine andere Aufgabe oder der Lehrer erklärt ihnen die Aufgabe nochmals.
Braucht eine solche Methode nicht auch mehr Lehrpersonal?
Sicher, es erfordert ja individuelle Betreuung der Schüler. Sonst wären die Schüler wirklich überfordert. Der Schüler muss sich jederzeit an jemanden wenden können. Deswegen haben wir während dieser Phasen für zwei Lerngruppen immer drei Lehrer, sodass ein Lehrer frei ist für solche Gespräche.
Welche Erfahrungen haben Sie in den vergangenen vier Jahren mit dieser Unterrichtsarbeit an der Erhard-Junghans-Schule gemacht?
Wir haben durchweg positive Erfahrungen. Die Rückmeldungen der Eltern sind sehr positiv, aber auch die von den Schülern. Der Notendruck ist weg. Die Schüler werden viel stärker als individuelle Persönlichkeit gesehen und weniger als guter oder schlechter Mathe- oder Physikschüler.
Was wäre denn zu verbessern an der Gemeinschaftsschule?
Klar ist, dass das nicht von Anfang an alles super läuft, die Gemeinschaftsschule ist ja eine noch recht junge Schulart. Die Aufgaben werden bei uns jedes Jahr erneut kritisch überprüft. Es ist ein erheblicher Aufwand, bis die Schule einen Grundstock an Materialien hat, der 90 Prozent der Schüler gerecht wird. Das braucht Zeit.
Was halten Sie von der derzeit laufenden Kritik?
Für die Gemeinschaftsschule brauchen wir die ganze Bandbreite vom Gymnasium über die Realschule bis zur Werkrealschule. Durch diese Diskussion fürchte ich, dass die Gemeinschaftsschule in Misskredit kommt und uns dann dieser Gymnasialteil wegbrechen wird.
Weshalb ist das wichtig?
Nehmen wir ein Beispiel. Eine Aufgabe in Physik: Der Gymnasiast ist vielleicht der eher theoretische Physiker und macht sich im Internet schlau. Der Werkrealschüler hat praktische Ideen, wie das als Versuch umzusetzen ist. Davon lebt diese Art von Unterricht, dass jeder was zum Ergebnis beitragen kann.
Manche Kritiker finden, die Gemeinschaftsschule sei total gescheitert und sollte aufgegeben werden?
Völlig absurd. Die Grundbedingungen sind richtig: Ich muss erfolgreich sein, um ordentlich lernen zu können, ich brauche Aufgaben, die ich bewältigen kann. Nicht zu vergessen – die Schülerschaft ist nicht einfacher geworden. Es wird immer mehr individuelle Förderung nötig. Und genau das macht die Gemeinschaftsschule.