Offen für alle: Auf Instagram kann man Selfies hochladen, die Teil der Ausstellung werden, die am Samstag eröffnet wird. Screenshot: al
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„Ich, ich, ich – Selbstdarstellung heute“ lautet der Titel einer Ausstellung des Forum Kunst, die am Samstag eröffnet und dieser Tage im Bürgersaal am Rottweiler Friedrichsplatz vorbereitet wird – aber nicht nur dort, sondern auch im Internet, wo stündlich Selfies dazu kommen, die Teil der Ausstellung werden. Die NRWZ wollte von Forum-Kunst-Geschäftsführer Jürgen Knubben wissen, was es mit dem Projekt auf sich hat.








NRWZ: Herr Knubben, mit dem Aufhänger „Ich, ich, ich“ sprechen Sie den Individualismus in unserer Gesellschaft an. Der ist aber nicht neu, sondern nimmt seit Jahrzehnten stetig zu, mal eher auf der Ebene der Lebenskonzepte, Stichwort „Selbstverwirklichung“, mal eher auf im Bereich Konsum und Hedonismus – warum greifen Sie das Thema gerade jetzt auf?

Jürgen Knubben: Individualismus ist ja zunächst einmal etwas Gutes. Er stellt den Menschen und die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt. Das umfasst auch das Recht am eigenen Bild, und das nicht nur im juristischen Sinne: Ich kann mich so darstellen, wie ich gesehen werden will. Dabei ist der Übergang von der Selbstinszenierung über die Eitelkeit bis zum Narzissmus fließend.

Dieses Thema beschäftigt die Kunst in der Tat schon lange. Bereits Ovid beschreibt den Mann, der sich in sein Spiegelbild verliebt. Caravaggio hat seinen „Narziss“ im 16. Jahrhundert gemalt. Aber es ist offensichtlich, dass durch die sozialen Medien eine neue Dimension des Individuellen erreicht wurde. Man möchte dazugehören, Teil des Netzwerks sein, Inhalte konsumieren und sich selbst zeigen. Rund 100 Millionen Fotos werden allein auf Instagram veröffentlicht – jeden Tag!

Es gibt aber auch gegenläufige Tendenzen. Die Netflix-Doku „The Social Dilemma” war sicher ein Wendepunkt. Darin warnen Silicon Valley-Größen vor ihren eigenen Produkten. Wir brauchen eine kritische und ausgewogene Diskussion über die Folgen von sozialen Medien für die Gesellschaft. Dazu kann auch die zeitgenössische Kunst beitragen.

NRWZ: Wie kann das aussehen?

Jürgen Knubben: Der zentrale Teil der Ausstellung macht die Besucher zu Beteiligten. Alle können mitmachen, indem sie ein Selfie posten, das dann für kurze Zeit Teil der Präsentation sein wird. Schon vorab sind bereits über 200 Selfies bei uns angekommen. Und es werden stündlich mehr. Nicht nur Künstlerinnen und Künstler aus dem In- und Ausland schicken uns ihre Porträts, auch unzählige Menschen, die mit dem regulären Ausstellungsbetrieb sonst nichts zu tun haben. Genau das ist das Ziel!

Im Bürgersaal werden die hochgeladenen Selfies an die große Wand projiziert. Foto: Forum Kunst

 

NRWZ: Mit Blick auf die Gesellschaft verbinden viele mit dem aktuellen Super-Individualismus eine Krisen- und Problemwahrnehmung, kurz gesagt: Wo sich lauter „Ichs“ profilieren, bleibt kein Raum mehr für ein verbindendes „Wir“ und für Gemeinwohl. Aber ist in der Kunst das Individuum nicht eine zentrale Triebfeder – die Neuzeit fing ja in der Renaissance gerade damit an, dass Persönlichkeiten wie Dürer oder Michelangelo sich mutig als schöpferisches Individuum verstanden haben?

Jürgen Knubben: Ich glaube nicht, dass Kunst nur zustande kommt, weil sich Individualisten ausdrücken oder profilieren müssen. Das gibt es, ist vielleicht sogar eine Voraussetzung, um als Kunstschaffender erfolgreich zu sein. Aber es geht immer um mehr. Es geht um die subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit, um das Aufzeigen gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge, es geht um ästhetische Konzepte und manchmal auch um die Mithilfe bei der Lösung menschlicher Konflikte.

Ohne Interesse an der Welt um uns herum wird Kunst schnell zur bloßen Dekoration. Und ohne Publikum läuft jede Kunst ins Leere. Das Selfie und die Kunst verbindet ja ein Spannungsfeld aus absoluter Kontrolle und Ausgeliefertsein: Sobald ein Foto gepostet ist oder ein Kunstwerk ausgestellt wird, verliert der Schöpfer die alleinige Macht über die Bewertung seines Werks. Hier sind es Rezensionen oder Leserbriefe, dort sind es Likes oder Kommentare, der Mechanismus ist derselbe. Und oft gibt es nicht nur Zustimmung.

NRWZ: Sie loten in der Ausstellung das aktuelle Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit aus – was beobachten Sie da?

Jürgen Knubben: Der Gegensatz von privat und Öffentlichkeit gehört weitgehend der Vergangenheit an. Ob es die exhibitionistische Dokumentation der eigenen Vita oder das investigative, bisweilen voyeuristische Aufspüren des Privaten der Mitmenschen betrifft, die Vorgehensweisen sind unterschiedlich, führen aber meist zum gleichen Ergebnis: der Aufgabe jeglicher Intimität. Doch je mehr Menschen ihr Privates preisgeben, desto uninteressanter wird es für die Öffentlichkeit.

NRWZ: Einerseits wird heute nach außen posaunt, was vor Jahren noch als diskretionsbedürftig galt. Andererseits gibt es Themen, die neu in den Bereich von Privatheit, Sensibilität und Tabu gerückt werden, etwa die früher unverfängliche Frage, woher man komme – wie reagiert die Kunst auf diese Gegentendenzen zum immer weiter expandierenden Exibitionismus?

Jürgen Knubben: Das Problem mit der Frage nach der Herkunft ist ja oft weniger die übertriebene Empfindlichkeit des Befragten als der ausgrenzende Unterton der Frage. Aber das ist ein völlig anderes Thema. Künstlerinnen und Künstler sind es jedenfalls gewohnt, ihr Innersten nach Außen zu kehren. Es ist mal mehr, mal weniger explizit. Aber jedes Bild, jede Skulptur, jede Installation entstammt der inneren Auseinandersetzung des Künstlers mit sich und seiner Umwelt.

NRWZ: Teil der Ausstellung ist es, dass jede und jeder eingeladen ist, aktuelle Selfies beizusteuern, die Teil einer Installation werden. Was ist die Idee dahinter – werden da viele Ichs wieder zu einem Wir verschmolzen?

Jürgen Knubben: Wenn es der Ausstellung gelingen sollte, durch Teilnahme und Interaktion für eine kurze Zeitspanne ein „Wir“ zu schaffen, dann hat sich alle Anstrengung gelohnt. Es gibt keine hierarchischen Strukturen, jede und jeder wird gleich groß und gleich lang gezeigt und verschwindet schließlich als Print im Kasten. Vom Digitalen zum Analogen, so schließt sich der Kreis.

Die bis Mittwochabend bereits über 200 eingesandten Selfies sind sehr unterschiedlich. Screenshot: al

NRWZ: Gesellschaftlich führt das viele „Ich“ ja zu Verwerfungen, zum Verlust an Bindekräften, nicht zuletzt zu sehr viel Einsamkeit. Kann die Kunst Anstöße geben und für einer bessere Balance zwischen Individualismus und Gemeinsinn sensibilisieren?

Jürgen Knubben: Wir versuchen es, nicht nur mit dieser Ausstellung, sondern mit der ganzen Kraft unseres Kunstvereins. Denn genau darum geht’s im Forum Kunst: herausragende zeitgenössische Kunst gemeinschaftlich zu erleben und sich im Dialog mit ihr auseinanderzusetzen. Alle sind herzlich dazu eingeladen!

Die Fragen stellte NRWZ-Redakteur Andreas Linsenmann.

 

Info: Die Ausstellung wird am Samstag um 19 Uhr eröffnet und ist bis 5. November zu sehen. Bei der Vernissage führen Jürgen Knubben und Thomas C. Breuer in das Thema ein. Unter dem Hashtag #ichichichrw kann man auf Instagram Selfies hochladen und Teil der Ausstellung werden.

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