Wohin soll das Gefängnis für 400 Häftlinge? Ins Esch bei Rottweil, lautet aktuell die Antwort der Landesregierung. Dagegen wehrt sich der Rottweiler Allgemeinmediziner Matthias Probst. Schon 2010 hatte er den Flächenbedarf öffentlich angeprangert, die die Justizvollzugsanstalt für den damals diskutierten Bitzwäldle bei Zepfenhan bedeutet hätte. Jetzt schrieb er einen Offenen Brief an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Tenor: Der Knast darf nicht ins Esch. Die NRWZ bringt den Brief im Wortlaut:
Sehr geehrter Herr Kretschmann,
mit größtem Entsetzen habe ich die Entscheidung des Justizministeriums zur Kenntnis nehmen müssen, dass das neue Großgefängnis in Rottweil ausgerechnet in das Esch, ein landschaftlich wunderschönes Gebiet, angrenzend an ein Naturschutzgebiet gebaut werden soll. Dies ist umso unverständlicher, als es mit dem Stallberg einen ökologisch weitaus weniger prekären Standort gäbe, welcher mit nur geringem finanziellem Mehraufwand problemlos realisierbar wäre.

Insbesondere bin ich unsagbar enttäuscht darüber, dass so etwas unter einer von den Grünen geführten Regierung mit Ihnen als Ministerpräsident möglich ist. Hier bricht für mich geradezu eine Welt zusammen. Seitdem ich das erste Mal wählen durfte, habe ich IMMER grün gewählt und noch vor der letzen Landtagswahl in emotionalen Diskussionen zahlreiche Freunde und Bekannte umgestimmt.
Ich versichere Ihnen hier und heute, dass ich dies nach dem derzeitigen Stand der Dinge ganz sicher nicht mehr tun werde. Seit meiner Jugend ist mir klar, dass das C bei der CDU leider eher für „conservative“ steht als für „christlich“ im Sinne der Bergpredigt, und das F der FDP nichts mit dem, was man gemeinhin für Freiheit hält und schon gar nichts mit den meisten philosophischen Freiheitsbegriffen zu tun hat. Spätestens seit den Hartz-IV Gesetzen steht auch das S in der SPD nicht mehr dafür, wofür es einmal stand und stehen sollte. Nun muss ich komplett ernüchtert und frustriert feststellen, dass auch das Grün der Grünen immer weniger grünt.
Auch in anderen Bereichen, erlaube ich mir anzumerken, bin ich von der Regierungspolitik aufs massivste enttäuscht und habe mich zum Teil schon bei den von mir umgestimmten Menschen dafür entschuldigt. Genannt werden soll nicht einmal S 21, sondern vor allem auch die Schulpolitik (z.B. ganze vier4 Gymnasien in Südbaden bieten G9 an, Sie glauben gar nicht wie viele Grüne oder die SPD wegen G9 gewählt haben), die Gesundheitspolitik mit bereits jetzt oder in naher Zukunft weitgehend „entkrankenhausten“, bald auch „entlandarzteten“ Landstrichen (mittlerer Schwarzwald, Allgäu, Region Biberach) oder die Verkehrspolitik (dauernde Debatten um Zugstreichungen, bis jetzt keine wiedereröffnete Eisenbahnlinie abgesehen von Planungen und Gesprächen bzgl. Weil der Stadt-Calw, statt dessen Giga-Liner auf den Straßen statt Güterzügen auf den Schienen) uvm.

Von Ihnen, Herr Kretschmann, kennt man viele Bilder, wie Sie auf der Schwäbischen Alb oder im Donautal wandern und ich nehme Ihnen auch ab, dass Sie das gerne tun. Ich lade Sie ein, mit meiner Frau, meinem zwölfjährigen Sohn und mir den Weg vom Esch hinab zur Neckarburg zu wandern (vgl. „Kretschmann läuft“), den wir schon so oft am Wochenende gegangen sind um die Natur zu genießen und Steinchen in den Neckar zu werfen. Wir können uns dann gerne bei einem Bio-Apfelschorle oder einem Kaffee im neu eröffneten (und bald wohl wieder geschlossenen) Biergarten Neckarburg darüber unterhalten, ob Sie wirklich immer noch der Meinung sind, dass dieses wunderschöne Fleckchen Erde mit einem Großgefängnis (oder mit irgend etwas anderem) überbaut werden sollte. Wir könnten auch darüber nachdenken, wie und ob es ernsthaft sein kann, dass es unter einer grün-geführten Regierung zu solchen katastrophalen Fehlentscheidungen kommen kann bzw. ob solche Entscheidungen wirklich noch mit den Überzeugungen und Idealen kompatibel sind, die damals die grüne Bewegung ins Leben gerufen haben.
Sehr geehrter Herr Kretschmann, ich habe, resigniert wie ich momentan bin, lange darüber nachgedacht, ob es Sinn macht, diesen Bief zu schreiben. Ich denke, zuallererst macht jedenfalls keinen Sinn, ihn nicht zu schreiben. Und wenn es dann irgendwann keinen Sinn mehr macht, gerade einen eigentlich geschätzten Menschen und Politiker wie Ihnen in so einer eindeutigen Situation an seine Ideale, für die und mit denen er angetreten ist, zu erinnern, dann ist wirklich der Sinn und das Bindeglied, das unser freiheitlich-demokratische Gemeinwesen „im innersten zusammenhält“, verloren gegangen. Dieses Bindeglied sind wir Menschen, die wir nach reiflicher Besinnung des „Guten“ an diesem orientierte Ideale und Überzeugungen entwickeln, deren Verwirklichung uns „am Herzen liegt“ und möglich scheint, und für die einzustehen es sich lohnt, sei es als Bürger, die die Menschen wählen, die diesen Idealen am meisten entsprechen, sei es als demokratisch gewählte Vertreter, von denen mit Recht und Billigkeit erwartet werden kann und darf, dass sie ebenfalls zu diesen Idealen stehen, diese umsetzen und nicht bis zur Unkenntlichkeit verwässern oder im schlimmsten Fall sogar verraten und verkaufen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. Matthias Probst mit Sigrun Schnitzer und Marcel
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