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„Niemand kann sagen, man habe nichts gewusst“, Veröffentlicht: Sonntag, 5. September 2021, 13.13 Uhr

Niemand kann sagen, man habe nichts gewusst

1000 Menschen wurden vor 80 Jahren zum ersten Mal aus aus Württemberg und Hohenzollern von den Nazis deportiert. Auch in unserer Raumschaft fanden Ausgrenzung, Raub und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung statt. Es ist eine Geschichte, die nahegeht. Vor allem, wenn man sich dessen bewusst wird, dass die Gesamtgesellschaft bei diesen Verbrechen meist tatenlos zusah – und sogar davon profitierte. Dies verdeutlicht eine neue Wanderausstellung zur Verfolgung und Ausraubung der Juden, die noch bis Ende Oktober im Stadtmuseum Schramberg zu sehen ist.

Konzipiert hat die Ausstellung mit dem Titel „Ausgrenzung – Raub – Vernichtung“ ein ehrenamtliches Team um Heinz Högerle aus Horb-Rexingen. Der erste Vorsitzende des Gedenkstättenverbundes Gäu-Neckar-Alb gab bei einem Pressetermin Einblicke in die Entstehung der Ausstellung, der jahrelange Recherche und Forschung seit 2021 zugrunde liegen. Sie basiert auf einem gleichnamigen Buch über NS-Akteure und die „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern. Dies ist ein neues, grundlegendes Werk darüber, was der Nationalsozialismus für Juden in Württemberg und Hohenzollern, und auch in Gesamtdeutschland, wirklich bedeutete. Auch zwei Schramberger Beiträge zur tragischen Geschichte der Majolikafabrik und des Lichtspielhauses von Stadtarchivar und Museumsleiter Carsten Kohlmann sind im Sammelband dieser bedeutenden Forschung aufgeführt und in der Ausstellung zu sehen.

Heinz Högerle, Vorsitzender des Gedekstättenverbundes Gäu-Neckar-Alb und Herausgeber des Buches „Ausgrenzung – Raub – Vernichtung“, führt durch die Ausstellung, die bis Ende Oktober im Schramberger Stadtmuseum zu sehen ist.

Besitz der Opfer verkauft wie in Warenhäusern

„Vor einiger Zeit fanden wir Dokumente, die belegten, dass Juden auch in unserer Gegend vor ihrer Deportation achtseitige Listen über ihren Besitz ausfüllen mussten. Denn Ziel und Ergebnis der Deportationen war nicht nur ihre Vernichtung, sondern auch, ihr gesamtes Eigentum zu übernehmen“, erklärt Högerle den Hintergrund der Ausstellung. Im Jahr 1938 führten die Nazis eine vollständige Vermögenserfassung der Juden in Gesamtdeutschland durch und führten die sogenannte „Judenvermögensabgabe“ ein. Die Listen über Besitz umgehend vor der Deportation der Menschen seien damals dann zur Nazizentrale in Stuttgart gegangen, wo entschieden wurde, wer über das Eigentum nun verfügen wird.

Beschriftung auf Ausstellungstafel: Für jedes Familienmitglied, das deportiert wurde, musste im Detail aufgeführt werden, was es besaß: Möbel, Kunstgegenstände, Schmuck, Geschirr, Wäsche, und Konten bei Banken und Sparkassen und Barmittel. Auch für Kinder musste eine gesonderte Erklärung abgegeben werden.

Der Besitz wurde daraufhin von den Finanzämtern wie in Warenhäusern angeboten und die gesamte Gesellschaft bediente sich. Gar Bestellungen von Ölgemälden, Teppichen und Geschirr von Einzelpersonen und Verbänden wie den Frauenschaften gingen bei der Verwaltung darüber ein. „So, als ob es normal wäre. Dabei wusste jeder, woher diese Ware kam, dass dies eigentlich der Besitz von Menschen war, die weggebracht wurden und nie wieder zurück kommen würden“, erklärt Högerle. Auch deshalb kommt er zu dem Schluss: „Es kann wirklich niemand  mehr sagen, man habe nichts gewusst. Alle wollten etwas vom Besitz der Juden und haben dort bestellt“.

Beschriftung laut Ausstellungstafel: oben – Ausschnitt aus einer mehrseitigen Liste von Teppichen der deportierten Jüdinnen und Juden. Die Finanzämter, die den jeweiligen Teppich erhalten hatten, wurden rot notiert. unten – Die NS-Volkswohlfahrt Kreisamtsleitung Horb quittierte den Erhalt von Lebensmitteln aus dem Wintervorrat der deportierten Familien.

In den Landesarchiven Baden-Württemberg und Sigmaringen und den Staatsarchiven Stuttgart und Ludwigsburg stießen Högerle und weitere Engagierte auf große Bestände solcher Listen. „Wir waren total schockiert“, erinnert er sich. Schnell war ihm und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern klar, dass dies aufgearbeitet werden müsse. Deshalb entschied sich der Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb mit Unterstützung der Archive und Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg in dem Buch und der Ausstellung anhand zahlreicher Dokumente aufzuzeigen, wie organisiert die Vernichtung und der Raub an den Juden vonstatten ging.

Auch Schrambergs Oberbürgermeisterin Dorothee Eisenlohr, die die Ausstellung vergangene Woche mit eröffnete, betont, dass auch bei uns die Verfolgung systematisch war und ist schockiert ob der Dokumente, die nun im Stadtmuseum ausgestellt sind. Ernüchternd seien auch die Belege darüber, dass selbst bei den Restitutionen durch die Finanzämter in der Region viel Unrecht geschah und Juden, die überlebten, oder ihre Nachkommen oft nicht zurückbekamen, was ihnen genommen wurde.

Selbst beim Antrag für Restitutionen mussten die Opfer ihre „Rasse“ angeben. Oft bekamen sie nicht zurück, was ihnen zustand.

Schonungslose Ausstellung an den Orten der Zerstörung

Auf eng gestellten, mahnend roten Tafeln wird die Geschichte der Juden-Deportationen in Württemberg und Hohenzollern nun im Stadtmuseum Schramberg gezeigt. „Die Ausstellung geht an die Orte der Zerstörung und zeigt dort schonungslos, was passierte“, so OB Eisenlohr in ihrer Eröffnungsansprache. Auch wenn es bedrückend sei, so „müssen wir uns damit auseinandersetzen“, sagt sie. Kohlmann verdeutlicht in seinen Ausführungen daraufhin, weshalb dies gerade auch in Schramberg besonders wichtig ist. Die Beispiele der Majolikafabrik und des Lichtspielhauses zeigten auf, wie zerstörerisch der große Nationalsozialismus auch im kleinen Schramberg wirkte.

Stadtarchivar und Museumsleiter Carsten Kohlmann erklärt in der Ausstellung und im neuen Werk zur Verfolgung der Juden in Württemberg und Hohenzollern die Schramberger Fälle der Majolikafabrik und des Lichtspielhauses.

So wurden die Gebrüder Meyer, Geschäftsführer der Majolikafabrik bei der Machtübernahme der Nazis, in Schramberg bedrängt, beschimpft und letztlich enteignet. Wie so viele, mussten sie ins Exil gehen (in diesem Beitrag wird die Geschichte der Majolikafabrik und das dunkle Kapitel während Nazizeiten detailliert beleuchtet). Doch ihr Fall sticht in der Ausstellung trotzdem hervor. Denn die Meyers waren die einzige jüdische Familie in Württemberg und Hohenzollern, die nach 1945 wieder zurückkehrte und nach der Restitution die Majolikafabrik bis zu ihrer Schließung weiterführten. Bis heute befindet sich die Fabrik in Familienhand. „Das zeugt von einer seltenen Größe“, so Kohlmann, „aber auch von unfassbarer Tragik.“

Auch das Lichtspielhaus am Paradiesplatz in Schramberg wurde von den Nazis nach 1933 anvisiert. Das Gebäude im Bauhausstil, der maßgeblich von jüdischen Architektinnen und Architekten geprägt wurde, und die Moderne des Kinos im kleinen Schwarzwaldort war den Nazis ein Dorn im Auge. „Heute würde man nach dem Internet greifen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Damals waren das eben Film und Kino“, erklärt Kohlmann, weshalb es den Nazis besonders wichtig war, die Filmindustrie zu kontrollieren. Das Lichtspielhaus in Schramberg war bis zur Machtübernahe der Nationalsozialisten ein demokratisch geführtes Projekt, das viel Hollywood-Glanz in den Schwarzwald brachte. Doch bereits 1933 wurde es zum NS-Propagandamittel mit dem neuen Pächter Steib, der von den Nazis eingesetzt wurde.

Die detaillierte Geschichte des ehemaligen Kinos und vieler weiterer Beispiele ist in der Ausstellung und dem zugehörigen Buch nachzulesen. Spannend ist aber noch, dass auch der Paradiesplatz vor dem Lichtspielhaus seinen Namen von den Nazis erhielt, zuvor hieß dieser Friedrich-Ebert-Platz. Immer wieder gebe es Diskussionen darüber, diesen umzubenennen, bestätigt OB Eisenlohr auf Nachfrage der NRWZ. Doch der Gemeinderat hätte dies vor einigen Jahren aufgrund praktischer Bedenken mehrheitlich abgelehnt.

Bürgerschaftliche Forschung gegen das Vergessen

Die Wanderausstellung ist beispielhaft für bürgerschaftliche Forschung gegen das Vergessen unserer Vergangenheit. Högerle ist dankbar für die große Unterstützung der Landes- und Staatsarchive und auch der lokalen Museen wie Schramberg, die die Ausstellung beherbergen. Sowohl Högerle als auch Kohlmann wünschen sich, dass auch Schulklassen, soweit corona-bedingt möglich, die Ausstellung besuchen. In den kommenden Wochen gibt es außerdem ein weiteres umfassendes Programm zu Themen rund ums Judentum, da 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland gefeiert werden.

 

 

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