
Kunstwerke erzählen Geschichten – häufig biblische, oft aber auch allgemein menschliche und private. Die Darstellung einer Kreuzabnahme und Beweinung Christi in der Irslinger Sankt Martins-Kirche, tut beides.
Sie vergegenwärtigt die Beweinung Jesu und führt damit in das Geschehen der Kar- und Ostertage hinein. Sie zeugt aber auch vom Leben und Leiden einfacher Menschen im 17. Jahrhundert – dem wir uns in der Corona-Pandemie mitunter näher fühlen als lange. Denn gestiftet wurde das Schnitzwerk, das auf ein Meisterwerk Conrad Rötlins zurückgeht, 1639 – nach höchster Bedrängnis durch die Pest.
Man schreibt das Jahr 1635. Als ob des Elends nicht schon genug wäre: Plünderung, Raub und Hunger peinigen die Menschen. Unerbittlich wütet der Krieg, den man ob seiner quälenden Dauer später den „Dreißigjährigen“ nennen wird. Für Generationen wird das Land die Auszehrungen kaum verwinden. Da sucht zu allem Überfluss auch noch die Pest, der „schwarze Tod“, die Region am obersten Neckar heim.
Am 11. November 1635 stirbt dem Epfendorfer Müller Johannes Nolhardt und seiner aus Irslingen stammenden Frau Barbara Stern der kleine Sohn Mathias. Auch für den Rest der Familie muss man das Schlimmste fürchten. Aber – man ist versucht, von einem Wunder zu sprechen – die drei Töchter und der zweite Sohn der Nolhardts, ein bis zehn Jahre alt, überleben die Seuche. In den umliegenden Ortschaften hatte sie hunderte Menschen dahingerafft.
Das Müllerpaar nimmt dies als Zeichen Gottes und stiftet ein Andachtsbild. Ob aus Dankbarkeit oder vielleicht um ein Gelübde einzulösen, lässt sich nicht mehr feststellen. Die Inschrift auf der Rückseite der Figurengruppe schweigt sich zu dieser Frage aus.

Jedenfalls beauftragen die Nolhardts einen Holzschnitzer, die Nachbildung einer offenbar bereits damals berühmten Darstellung der Kreuzabnahme zu fertigen: der um 1515 von Conrad Rötlin in spätgotischer Manier geschaffen Beweinung Christi, die sich damals wohl in der Rottweiler Dominikanerkirche befand und heute in der Falkensteiner Kapelle im Süden von Schramberg zu sehen ist.
Dieses Hochrelief aus Lindenholz gilt nicht nur als eines der wichtigsten Werke des um 1460 in Rottweil geborenen Meisters, der insbesondere für Kaiser Maximilian I. tätig war. Vielmehr wird die Figurengruppe als eine der schönsten Beweihungen in ganz Süddeutschland erachtet. In der Tat lässt Rötlins Werk nicht nur durch das virtuose Spiel der Faltenwürfe staunen, in das die biblischen Gestalten geradezu eingewoben scheinen. Vor allem die Natürlichkeit und Differenziertheit der Dargestellten und die Dramatik, mit der ihre Gefühlslage spürbar wird, weisen Rötlin als einen erlesenen Meister an der Schwelle zur Renaissance aus.
Die Beweinung, die bis in die 1970er Jahre in den einander nachfolgenden Kirchen von Maria Hochheim zu finden war und in der Literatur stets etwas ausweichend als „bäuerliche Nachbildung“ firmiert, kann nicht durch derlei Feinheit und Ausdruckshöhe glänzen. Sie berührt aber nicht minder auf ihre Art – durch Konzentration auf die wesentlichen Inhalte der biblischen Schilderung.
Stillen, dabei aber umso ergreifenderen Schmerz hat der namentlich nicht bekannte Schnitzer dargestellt: Vier Menschen trauern um den eben vom Kreuz abgenommenen, noch die Dornenkrone tragenden Jesus. Links stützt der Lieblingsjünger Johannes Maria, die ihm unter dem Kreuz als Mutter zugewiesen wurde. Sie überragt – bei der Nachbildung mehr als im Original – zwar symbolträchtig alle und wirkt äußerlich gefasst. Tatsächlich aber ist sie die „mater dolorosa“, die Schmerzensmutter, deren Tränen ob des vielen Leids schon lange versiegt sind. Daneben verehrt die bekehrte Sünderin Maria Magdalena mit einem Handkuss eines der Wundmale Jesu. Ganz rechts hält Maria Kleophae, eine Verwandte Marias, ehrfürchtig eine Fußwunde Christi.

Solche Andachts- und Gnadenbilder waren dazu gedacht, die Betrachter einerseits an die biblischen Geschehnisse zu erinnern, sie ihnen in ihrem mahnenden und heilsgeschichtlichen Gehalt vor Augen zu führen. Andererseits sollten sie zu Hilfsbereitschaft und tätiger Nächstenliebe anregen. In Zeiten von Verheerung und Seuchen konnten sich die Menschen mit dem Leid der biblischen Gestalten ganz unmittelbar identifizieren: Jeder hatte selber Angehörige zu beweinen und zu Grabe zu tragen.
Heute sind das erlesene Original und die Irslinger Nachbildung in erster Linie Kunstwerke und beredte kulturgeschichtliche Dokumente. Ihr Wert wird besonders deutlich, wenn der Verlust droht. So wäre das Irslinger Bildwerk im Januar 1999 bei einem Brand beinahe ein Raub der Flammen geworden. Nach umfassender Restaurierung erstrahlt es seither in neuer Fassung – anders als das Schramberger Vorbild, an dem keine Farben mehr zu erkennen sind.

Dem Müller-Paar übrigens hat die Stifter-Tat von 1639 allem Anschein nach Segen gebracht: Zwei Tage vor Weihnachten 1640 wurde ihnen eine Tochter geboren, Catharina Nolhardt, die 1663 ins schweizerische Thurgau heiratete. Noch heute lässt sich dort eine zahlreiche Nachkommenschaft nachweisen. Vielleicht kann man aus dieser guten Wendung ja auch in den gefühlten Endlos-Schleifen der Corona-Pandemie etwas Hoffnung ziehen.
Info: Dieser Beitrag basiert auf der von Andreas Linsenmann 2020 herausgegebenen Buchpublikation „Maria Hochheim – Bedeutender Wallfahrtsort und kulturhistorisches Kleinod“.