NRWZ.de
„Fingerspitzengefühl“, Veröffentlicht: Mittwoch, 18. Juli 2018, 14.39 Uhr

Fingerspitzengefühl

Sie kamen in höchster Not: Weil ein Richter am Amtsgericht Oberndorf seit längerer Zeit erkrankt ist, haben sich dort die Akten gestapelt. Mit Emine Gül-Gedik und Raphael Lutz-Hill hat Amtsgerichtsdirektor Wolfgang Heuer in den vergangenen Wochen vom Justizministerium zwei junge Juristen zur Unterstützung  zugewiesen erhalten.

„Wir waren am Limit“, so Heuer, und das eigentlich seit seinem Amtsantritt in Oberndorf im April 2017. Viele Altfälle waren liegen geblieben und müssen jetzt vordringlich abgearbeitet werden. Um allen gerecht zu werden, hat Heuer die Zuständigkeiten der Richter neu verteilt. Die beiden „Neuen“ kümmern sich um Zivilrecht, Ordnungswidrigkeiten, Betreuungsfälle und Familienrecht. Mit ihrer halben Stelle befasst sich Gül-Gedik ausschließlich mit Scheidungen, Kindeswohlverfahren und Unterhaltsproblemen. Lutz-Hill hat eine volle Stelle und arbeitet im Bereich Zivilrecht, Ordnungswidrigkeiten und  Betreuungen.

Diese Betreuungssachen nehmen stark zu. Wer nicht mehr selbst über seine Angelegenheiten entscheiden kann, erhält einen gesetzlichen Betreuer. In manchen Fällen, etwa, wenn ein Bettgitter angebracht werden soll, muss aber der zuständige Betreuungsrichter entscheiden. Das Gitter ist eine „freiheitsbeschränkende Maßnahme“ und darf nur von einem Richter genehmigt werden.

Richter Heuer betreut Einrichtungen im südlichen Teil, Lutz-Hill eher im Norden des Amtsgerichtsbezirks, wird aber auch für die Stiftung St. Franziskus in Heiligenbronn zuständig sein. Vor einer Entscheidung müssen die Richter sich selbst ein Bild von der Lage machen: Atteste und Gutachten reichen nicht aus, „Für uns sind das immer lange Wege“, so Heuer.  

Keine Verlierer

Emine Gül-Gedik hat einen zehn Monate alten Sohn und ist vorzeitig aus dem Mutterschutz zurückgekehrt. Die beiden Omas kümmern sich abwechselnd um ihr Baby, wenn sie in Oberndorf  ist. Vor ihrer Mutterzeit arbeitete sie am Amtsgericht in Nagold und hat sich dort schon um Familienrecht gekümmert. Im Zivilrecht gehe es meistens ums Geld, im Familienrecht um die Kinder, „das ist natürlich emotionaler“. Ihre eigene Erfahrung mit  einem Kind sei zwar wichtig. „Aber wir müssen uns an die Regeln halten.“ 

Das sei schon richtig, aber es gebe immer einen Ermessensspielraum und es brauche Fingerspitzengefühl. „Die Kunst besteht darin, das Ermessen so einzusetzen, dass es keine Verlierer gibt“, weiß der erfahrene Richter Heuer. Für Gül-Gedik ist das Problem im Familienrecht die oft jahrelangen Streitigkeiten um die Finanzen: „Die Scheidung geht oft ganz schnell, aber dann kommt das Verfahren wegen Versorgungsausgleich…“ Derzeit warten etwa 100 Fälle auf die 33-Jährige.

Rechtsschutz bringt Klageflut

Raphael Lutz-Hill war nach dem Studium in Berlin und Hamburg nach seinem Referendariat  bei der Staatsanwaltschaft in Lörrach und hat nun die zweite Phase der Assessorenzeit in Oberndorf begonnen. Neben dem Zivil- und Betreuungsrecht kümmert der 32-Jährige sich um die Ordnungswidrigkeiten, ein „kompletter Schnitt zum Strafrecht“, das er als Staatsanwalt beackert hat.

Bei den Ordnungswidrigkeiten geht es oft um zu schnelles Fahren und drohende Fahrverbote. „Ohne Rechtsschutzversicherung würden die Leute nicht wegen 80 Euro klagen“, ist Gül-Gedik überzeugt. Da gäbe es spezialisierte Anwälte, so Lutz-Hill, die mit allen juristischen Mitteln versuchten, ein Fahrverbot oder gar Führerscheinentzug zu verhindern.

 

 

https://www.nrwz.de/kreis-rottweil/fingerspitzengefuehl/208248