Dr. Jürgen Winter, Allgemeinmediziner aus Schramberg, beschäftigt sich seit vielen Jahren auch mit philosophischen Fragen. Nach einem Masterstudium promoviert er derzeit mit einer Arbeit zu Hegel und seinen Schülern. Die Corona-Pandemie, die Maßnahmen der Regierungen und die Widerstände dagegen haben Winter stark beschäftigt. In einem Gastbeitrag für die NRWZ stellt er seine Sicht dar:
Der Mensch muss sich sein Dasein fortwährend mühsam erkämpfen. Wir sind trotz aller Fortschritte der Wissenschaften und der Technik mit nur begrenztem Wissen und Fähigkeiten den Gefährdungen des Lebens in der Welt ausgesetzt. Diese Verletzlichkeit, dieses begrenzte Wissen und Können, die letztlich schon mit der Geburt uns begleitende Sterblichkeit, hat den Philosophen Arnold Gehlen dazu veranlasst, den Menschen mit Blick auf seine biologischen Wurzeln als Mängelwesen zu bezeichnen.
Genau mit jenem gern verdrängten Gehlenschen Attribut des biologisch bedingten Mangels werden wir durch das Covid-19-Virus knallhart konfrontiert.
Das grenzenlose Machbarkeitsstreben des modernen Menschen löst sich unter dem Wüten des Virus auf in ein Eingestehen der Kleinheit des eigenen Daseins angesichts der Macht der „Schöpfung“.
Das Virus trifft unseren schwachen Punkt
Das Virus greift zudem gerade an jenem Punkt an, an dem sonst die urmenschliche Fähigkeit sitzt, die uns an die Spitze der Schöpfung gesetzt hat – an der menschlichen Fähigkeit über die Sprache sich in sozialen Kontakten und Beziehungen zu entfalten. Gerade jener Punkt des eigentlichen Menschseins, ein Wesen zu sein, das aus seinen sozialen Beziehungen zu anderen Menschen heraus erst wirklich lebt und nicht nur existiert, wird zur Einfallspforte eines todbringenden Virus.
Die bislang einzige zielgerichtete Waffe die weitere Ausbreitung des Virus zu bremsen ist zumindest derzeit noch die Einschränkung eben dessen, was Menschsein im eigentlichen Sinne bedingt, nämlich mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, soziale Gemeinschaft zu leben im Kontakt Angesicht zu Angesicht mit seinen Mitmenschen. Diese virusbedingte Notwendigkeit der Einschränkung der für ein glückliches Leben erforderlichen sozialen Kontakte wird uns allen gerade an Weihnachten, dem Fest der Liebe besonders schmerzlich bewusst.
Wir können nicht nicht handeln
Aber gerade aus diesem Bewusstwerden heraus, dass das einzelne gelungene Menschsein die Gemeinschaft der Menschen voraussetzt, ergibt sich die Notwendigkeit des Handelns.
Wir können nicht nicht handeln! Ich kann mich zwar egoistisch verhalten und so weiter leben wie bisher, aber ich kann nicht die Tatsache meiner Abhängigkeit von den sozialen Bindungen an andere leugnen. Wenn ich meine Abhängigkeit von der Gemeinschaft erkenne, muss ich diese auch schützen, so wie auch ich ihren Schutz benötige.
Wir dürfen die aktuellen Infektions- und Todeszahlen deshalb nicht ignorieren und wir dürfen sie mit Verweis auf nicht vergleichbare andere Situationen und Statistiken nicht weiter relativieren und kleinreden, sondern wir müssen handeln, wir müssen uns jetzt gegenseitig schützen.
Wir dürfen nicht die Hände in den Schoss legen, weil wir vermeintlich noch nicht genügend Informationen, Statistiken et cetera über das neue Virus haben, denn die Zeit läuft uns davon. Wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken als Ausdruck unserer Angst und die Existenz des Virus einfach leugnen, denn das wäre unvernünftig.
Wir dürfen die Verantwortung für das jetzt notwendige Tun nicht auf Politiker, Virologen oder Epidemiologen abwälzen, denn auch deren Möglichkeiten sind begrenzt. Schon gar nicht dürfen wir die Verantwortung in die Hände selbsternannter Heilsbringer legen, wie Querdenker, Populisten oder Mythenerzähler, denn diese frönen ihrem Egoismus.
Verantwortung für sich und die Gemeinschaft
Jeder einzelne muss sich deswegen seiner Verantwortlichkeit für sich und die Gemeinschaft in diesen Tagen bewusst sein und sie in die Gesellschaft einbringen.
Nur indem wir, und damit jeder einzelne, unsere sozialen Kontakte befristet massiv einschränken, handeln wir gerade nicht als Mängelwesen. Sondern gerade indem wir den anderen Menschen durch unseren Rückzug schützen, leben wir die intersubjektive Grundlage unseres Menschseins und bewahren das, was uns im humanistischen und im christlichen Sinne über das rein biologische Leben hinaus erhebt – nämlich die Liebe zu unseren Mitmenschen. Nicht der in unserer biologischen Natur liegende Mangel, der das Virus erhält und es weiter verbreitet, sondern unsere ethische Handlung den Anderen zu schützen, entscheidet dann über den Fortgang der Epidemie.
Wahre Freiheit ist für den Philosophen Kant gerade dieses Emporsteigen des Menschen aus dem Zwang der Naturgesetzlichkeiten, das sich selbst Befreien aus dem biologischen Mangel heraus durch die selbstbestimmte ethische Handlung. Und den Kompass für das was gutes und richtiges Handeln ist, hat nach Kant jeder Mensch bereits angeboren in sich. Er muss ihn nur beachten.