Am 9. April wird im Uhrenindustriemuseum Schwenningen die Ausstellung „Vor dem Uhrknall. Zeit und Leben im Dorf Schwenningen“ eröffnet. Sie präsentiert Geschichte im Museum unter einem neuen Blickwinkel.
Das Museum in der Bürkstraße 39 ist dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Zu sehen ist die Ausstellung bis 8. Januar 2023.
Zeitvorstellungen und Zeitregime
Villingen-Schwenningen und insbesondere der heutige Stadtteil Schwenningen waren einmal das Zentrum der Uhrenindustrie in Deutschland. Naheliegend deshalb, dass hier ein besonderes Augenmerk auf den Umgang mit Zeit gelegt wird. Statt also wie üblich den Ort Schwenningen im Lauf der Zeit vorzustellen, wird umgekehrt versucht, die Zeit im Ort zu erfassen, das Zusammenspiel vieler verschiedener, zum Teil widersprüchlicher Zeitvorstellungen und Zeitregime, die in der historischen Gesellschaft der Vormoderne herrschten.
Obwohl 1850 im Dorf bereits mehr als 50 Uhrmacher tätig waren, nahm man es mit der Uhrzeit nicht so genau. 1859 klagte das Postamt, dass die Kirchturmuhr stets eine Viertel- bis halbe Stunde nachgehe, weshalb zu spät eingereichte Postsendungen nicht mehr mit der bereits nach Fahrplan fahrenden Post befördert werden konnten. Der befragte Uhrenregulierer gab zu, dass er sich beim Stellen der Uhr nicht die Mühe mache, mittels sogenannter Zeitgleichungstabellen die gültige mittlere Ortszeit zu ermitteln. Erst 1860 bekam Schwenningen eine zweite öffentliche Uhr am Rathaus, die nun zuverlässig mit einem Sextanten reguliert wurde. Ein Sextant zur Uhrenregulierung und die originale Rathausuhr sind in der Ausstellung zu sehen.
Moralpredigt
Ein „christlicher Stundenweiser“ aus dem späteren 18. Jahrhundert, „dadurch ein Christ sich zur Wahrnehmung der Zeit das Nothwendige erwecken kann“, kommt sogar ganz ohne Uhrzeiger aus. Vielmehr wird jeder Stunde eine Moralpredigt zugeordnet. So entsteht ein zeitlich-überzeitliches Kontrollsystem über jede einzelne Handlung im Hinblick darauf, ob sie zur Erlangung ewiger Glückseligkeit nützt oder schadet.
Was galt also nun in Bezug auf die Zeit? Nach welcher Zeitvorstellung sollte man sich richten? Nimmt man das dörfliche Leben in seiner Gesamtheit ins Blickfeld, wie es die Ausstellung versucht, so ergeben sich noch erheblich mehr Widersprüche.
Wachsen, Reifen und Vergehen
Im Bauerndorf Schwenningen hatte der Zyklus der Jahreszeiten zweifellos eine, wenn nicht die zentrale zeitstrukturierende Qualität. Der Rhythmus von Wachsen, Reifen und Vergehen in der Natur bestimmte, was im Dorf an Arbeit anlag und war für alle verbindlich. Dem stand jedoch zugleich die ständige Gefährdung des Lebens gegenüber. Unwetter und Brände, Kriege und Zerstörungen konnten alle Bemühungen auf einen Schlag zunichtemachen, ebenso wie Krankheit und Tod.
Dem wiederum sollten feste Familienstrukturen entgegenwirken. Am besten war über Generationen hinweg jede Rolle im familiären Haushaltsverband immer mit einer starken Person besetzt. Heiraten von Cousins und Cousinen halfen den Besitz zusammenzuhalten, gute Partien waren selbstverständlich wichtiger als individuelle Neigungen. Insofern sind Familienstrukturen auch komplexe Zeitstrukturen, die Menschen in der Zeit verorten, vielleicht am besten im Bild des Stammbaums greifbar, von denen einige ausgestellt sind.
Saline verlangt Pünktlichkeit
Dieser gewollten Statik steht wiederum eine ab 1820 ebenso deutlich erkennbare Dynamik im Wirtschaftsleben gegenüber. Frühindustrielle Produktionsweisen wie in der seit 1824 in Schwenningen betriebenen Saline Wilhelmshall verlangten nicht nur plötzlich kollektive Pünktlichkeit, wodurch Uhren auch für die vom Taglöhner oder Handwerker zum Arbeiter mutierten Dorfbewohner erstmals einen praktischen Sinn bekamen. Nach dem Motto „Zeit ist Geld“ wurde die Bestimmung von Produktionsgeschwindigkeiten und Quantitäten relevant. Dafür entwickelte der Schwenninger Uhrmacher Johannes Vosseler auf der Basis einer handwerklich gefertigten Schwarzwalduhr 1835 einen ersten industriellen Hubzähler.
Erst alle diese Zeitvorstellungen zusammen und noch einige mehr in all ihrer Widersprüchlichkeit ergeben das komplexe Gewebe von Zeit, das das Leben in Schwenningen vor der und am Übergang zur Moderne bestimmte. Die Ausstellung versucht, das Zusammenspiel all dieser Zeiten aufzuzeigen. „Glokal“ konzipiert, also mit Blick auf die Verflechtung von Lokalem und Globalem, ergibt sich zugleich ein vielschichtiges Bild vom alltäglichen Leben in Schwenningen.
Neuer Museumskomplex
Das Projekt ist Auftakt zu einem neuen Museumskomplex in der ehemaligen Württembergischen Uhrenfabrik Bürk im Stadtbezirk Schwenningen. Künftig werden solche „Zeitfragen“ in Geschichte und Gegenwart den Kern der Museumsarbeit und der Ausstellungstätigkeit bilden. Dem Soziologen Hartmut Rosa zufolge besteht heute eine deutliche Diskrepanz zwischen der enormen Bedeutung der Zeitstrukturen als Motor für die kulturelle Grundbeschaffenheit der Gesellschaft einerseits und ihrer untergeordneten Rolle im gesellschaftlichen Diskurs sowie im allgemeinen Bewusstsein andererseits. Insofern haben die Ausstellung und das in Villingen-Schwenningen geplante Bürk-Areal, als dessen Erprobung sich die Schau versteht, ein hohes diskursförderndes Potential und durchaus einen aufklärerischen Anspruch.