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„„Die Regierenden haben sich verrannt““, Veröffentlicht: Montag, 19. April 2021, 13.04 Uhr

„Die Regierenden haben sich verrannt“

Unser Leser Michael Langguth hat unseren Beitrag „Einfach ein Corona-Sonntag“ – in dem es um un- und allenfalls mittelwichtige Ereignisse an einem Sonntag im Jahre 2021 geht – bereits kommentiert. Um seinen Kommentar, der in dem bunten Allerlei auf www.NRWZ.de sonst möglicherweise untergeht, einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, haben sich Langguth und die NRWZ-Redaktion darauf geeinigt, ihn leicht modifiziert als Leserbrief zu bringen. Mit der Vorbemerkung des Verfassers: „Ich weiß ja, dass das die Welt nicht ändert. Aber einfach dasitzen und die Klappe halten kann ich nun mal auch nicht. :-)“

Inspiriert vom erfrischend anderen Beitrag „Einfach ein Corona-Sonntag“, will auch ich mal meinen Frust von der Seele schreiben:

Ja, dieses Virus ist ein A…loch. Aber fragt mich nicht, was ich von all denen halte, die unter Anfangs unwissender (schon verziehen), dann nach und nach fahrlässiger (na ja…) und inzwischen m.E. mutwilliger Ignoranz (geht gar nicht) versuchen, dagegen mit zunehmend untauglichen Maßnahmen vorzugehen versuchen.

Ja, es ist gefährlich. Aber sagt mir bitte, wo auf der „schlimm Skala“ von 0 (Zitat Mr. Spock: Friede und ein langes Leben) bis 10 (großer Meteorit trifft Erde) Corona einzusortieren ist. Und dann bitte, wo die aktuellen und geplanten Maßnahmen auf einer Skala von 0 (jeder nach seinem Gusto) und 10 (alle vorsorglich weggesperrt) einzusortieren sind. Kommt da die gleiche Zahl raus?

Fakt ist für mich, dass der derzeit verbreitete Paniklevel und die reale Bedrohung nicht zusammenpassen. Und bitte! Steckt mich jetzt nicht in die Gut-oder-Böse-Ecke. Denn die Welt ist nicht schwarz oder weiß. Er ist wirklich schwer festzustellen, auf welcher aller möglichen Graustufen man sich gerade befinde. Denn ich habe keine Lust, den Mist zu bekommen und schon gar nicht, dran zu sterben. Aber deswegen werde ich mich auch nicht einmauern. Also ist es essenziell wichtig, an ehrliche und realistische Informationen zu kommen. Genau das ist aber derzeit schwierig. Die Informationen in Form der rohen Zahlen sind in ordentlichem Umfang aus offiziellen Quellen wie dem RKI verfügbar. Allerdings muss man schon halbwegs fit in Statistik und/oder Excel sein, um sie sich zu erschließen.

Genau das ist aber nicht jeder. Und da wird meiner Meinung nach seit einiger Zeit der Hebel angesetzt. Es soll ganz offenbar nicht leicht sein, an eine realistische Einschätzung zu kommen. Wer will das nicht? Warum? Weiß ich nicht. Eine Verschwörung? Sicher nicht. Denn hinter einer Verschwörung müsste doch jemand stecken, der einen Plan hat. Aber genau das traue ich derzeit leider keinem zu…

Zum Warum hätte ich eine Idee: Meines Erachtens haben sich die Regierenden verrannt. Bitte begeben Sie sich mal in eine gefühlte Flughöhe von 10.000 m und schauen Sie runter. Ist es nicht komisch, dass eine Speisegaststätte, in der sich Leute gemäß Hygienekonzept für ein bis zwei Stunden unter öffentlicher Kontrolle (jeder kann hereinschauen) aufhalten würden und deren Wirt durch die Schließung in seiner Existenz bedroht wird (90 Prozent der Fixkosten und für seine Krankenversicherung darf er Hartz IV beantragen) geschlossen wird und Veranstaltungen von religiösen oder Weltanschauungsgemeinschaften, welche sich über viele Stunden ohne jegliche Kontrollmöglichkeit hinter verschlossenen Türen treffen und bei deren vorübergehender Schließung keiner in wirtschaftliche Nöte geraten würde, offen sind? Gefühlte 1000 Beispiele könnten folgen. Freibad 2021? Ich will’s gar nicht hören…

Es war schon vor einem Jahr offensichtlich, und dazu genügt wirklich der leider inzwischen verpönte, gesunde Menschenverstand, dass das Risiko im Freien (Rumknutschen im inzwischen leider viel zu lichten Rottweiler Schulwäldle mal ausgenommen) gegen null geht. Trotzdem hat unsere Landesregierung bereits Mitte Oktober die „höchste Pandemiestufe 3“ ausgerufen und beschlossen, selbige mit einer Maskenpflicht auf Parkplätzen und an Bushaltestellen entschlossen zu bekämpfen. Ganz ehrlich: Nach Monaten der Unsicherheit war das für mich der Tag, an dem sie mich endgültig verloren hatten. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Ich dachte einfach eine Weile „Die sehen das realistisch, müssen aber den Überängstlichen zeigen, dass was getan wird“. Aber nein, das war deren Ernst: Alles Mögliche verbieten, von dem das Wenigste was bringt, und an anderer Stelle wegschauen.

Und wenn ich dann die Begründung höre: „Man kann nicht sicher ausschließen, dass sich nicht doch jemand anstecken könnte.“ Aufwachen! Raus aus der Vollkaskomentalität! Das Leben ist voller Risiken und die Kunst ist es, diese richtig einzuschätzen. Mir diese Einschätzung durch seriöse und transparente Information zu ermöglichen und mich bei der Bewältigung des verbleibenden Risikos bestmöglich zu unterstützen ist Aufgabe des Staates. Nicht, mich in Watte zu hüllen.

Drin, bei privaten Kontakten, passiert das meiste. Das ist doch klar, Innenraum, kein Hygienekonzept und keiner guckt zu. Lieber Staat: Willst Du Infektionen vermeiden? Dann setz‘ genau da an. Das ist unbequem, unpopulär und macht Ärger. Aber: Wenn ich wirklich möglichst viele Leben retten will, muss ich das tun, was nötig ist. Dazu gehört andersrum aber auch, die Leute mitzunehmen. Und wenn jetzt, zwölf Monate später, auch die Aerosolforscher darauf hinweisen, dass der ganze Mist im Freien Grütze ist, dann muss man da eben dran und die unsinnigen Restriktionen im Freien aufheben. Die Leute werden es damit danken, dass sie eher bereit sind, den Rest einzuhalten.

Die Ausgangssperre. Ja, ich verstehe, dass die Begrenzung der problematischen, privaten abendlichen Kontakte am einfachsten zu überwachen ist, in dem man schon die Fahrt von A nach B verbietet. Aber kann ich von einem Staat, der meinen Grundrechten (oooh – jetzt habe ich das Unwort des Jahres in den Mund genommen) verpflichtet ist, nicht erwarten, dass er sich dann halt etwas mehr Mühe gibt und hinterfragt, wo die Leute hinfahren? Ich bin mir sicher, dass Polizei und Presse da eine Art der Zusammenarbeit finden würden, in der ein paar „spektakulär“ überführte, illegale Besucher in einer Weise kommuniziert würden, dass es abschreckend wirkt. Bin ich zynisch? Nein, ich meine das wirklich so. Natürlich ist es nicht gut, wenn zehn Leute in einer 60-Quadratmeter-Wohnung stundenlang Aerosole austauschen.

Aber warum um alles in der Welt soll ich, wenn es mir danach ist, nachts nicht eine Runde spazieren gehen oder -fahren dürfen. Ich habe das schon ewig nicht mehr gemacht und es auch grad‘ nicht unbedingt vor. Führe derzeit ohnehin ein ziemliches Einsiedlerleben. Aber sollte ich es mir anders überlegen, will ich das tun dürfen. Das ist Freiheit. Und wer mir die verbieten will, den soll der sprichwörtliche Blitz beim Sch… treffen! Muss ich mir jetzt echt deswegen noch einen Hund zulegen?

All das ist nach meinem Verständnis das, was ein großer Teil der Demonstranten derzeit zum Ausdruck bringen will. Nicht alle. Ein Teil sich sicher Leute, die die Demos für Ihre Zwecke gehijackt haben. Zugleich der Teil, auf den sich große Teile der Presse mit Begeisterung stürzen. Aber die überwiegende Mehrheit, die da auf die Straße geht, sind erschreckend normale Leute, die ungefähr das zum Ausdruck bringen wollen. Dummerweise wird diesen Roman in 10-Punkt Schrift auf einem Plakat herumgetragen keiner lesen. Also müssen da eher einfach gestrickte Schlagworte wie „Freiheit!“ stehen. Aber deshalb die Demonstranten zu verurteilen, zu belächeln und als wasweißichwas beschimpfen? Nein, das kann es auch nicht sein. Nochmal: Jeder Tote ist einer zu viel. Menschenleben und Zahlenspiele passen nur schwer zusammen. Aber was ist die Konsequenz daraus? Und wie soll dann die Zukunft aussehen? Sagt es mir, denn ich weiß es nicht.

Erst sollten wir die Kurve flach zu halten, um die „Alten“ zu schützen. Hat so leidlich geklappt. Jetzt sind die Senioren weitgehend durchgeimpft und natürlich (!) steigt damit im Verhältnis der Anteil der jüngeren an der Inzidenz. Dieser „böse Fakt“ ist einfach zwangsläufig und sollte nicht zur Panikmache missbraucht werden. Wir testen mittlerweile viel. Das ist gut und richtig so. Aber dann muss einfach auch klar sein, dass ein Teil der Inzidenz auf Fällen gründet, die vor einem Jahr noch unerkannt geblieben wären und eine zweiprozentige Quote falsch positiver Antigen-Tests (sage nicht ich, sondern das RKI für den Fall, dass überwiegend Gesunde getestet werden) ganz normal ist. Das muss bei Bewertung der Inzidenz im Vergleich zu vor einem Jahr, als die Zahl 50 aufkam berücksichtigt werden. Und auf einmal sind auch Kinder besonders stark betroffen. Natürlich ist daran die britische Mutation schuld und nicht die Tatsache, dass wir komischerweise kurz vor dieser Erkenntnis damit angefangen haben, die Schüler großflächig zu testen. Auch (k)ein Grund zur Panik.

Apropos RKI: Am 26.3.2021 hat das RKI eine Inzidenz von 220 bis über 500, im Mittel 350 für Woche 15, also die zu Ende gegangene Woche vorhergesagt. Wir haben heute, in Woche 16, 165. Zur Erinnerung: Die Verschärfung der Maßnahmen (Osterlockdown), die auf Basis dieser Zahlen hätte erzwungen werden sollen, ging ja in die Hose. Das ist meines Erachtens das Interessante an der aktuellen Blockadesituation in der Politik: Man kann dieses Mal nicht sagen „Nur, weil wir diese oder jede Verschärfung auf den Weg gebracht haben, kam es nicht so schlimm“. Es kam ganz von selber nicht so schlimm, weil zumindest dieses Mal die Prognose definitiv überzogen war.

Meine Meinung: Die Maßnahmen und Hygienekonzepte für Innenräume, die letztes Frühjahr umgesetzt wurden, plus Abstandsregel im Freien wären völlig ausreichend. Maskenpflicht dort, wo viele Leute, wenig Luftaustausch und -volumen und längerer Aufenthalt ohne Ausweichmöglichkeit in Innenräumen zusammenkommen. Konzentriert die Kräfte darauf, das zu vermitteln und durchzusetzen. Schürt nicht ständig Panik, um immer wieder aufs Neue verschärfte Maßnahmen durch-, anstatt die bestehenden umzusetzen.

Jetzt der Bogen zurück. Das hat man nicht getan. Man müsste jetzt ehrlich sein und zurückrudern. Also einen Fehler zugeben. Ich wäre der allerletzte, der damit ein Problem hätte. Denn das zu tun wäre wahre Größe. Zumal wir in einer Situation sind, in der keiner alles auf Anhieb richtigmachen kann. Daher ist ein gewisser Zickzack-Kurs unvermeidlich. Die Anlaufprobleme bei der Impfung? Geschenkt! Jetzt kommt’s ans Laufen. Auch die LKW-Maut hat eine Weile gebraucht und funktioniert jetzt.

Was ich aber nicht verzeihe ist, dass nach meiner Wahrnehmung mittlerweile die Situation bewusst schlechter dargestellt wird, als sie ist. Nur weil man nicht bereit ist, zuzugeben, dass man sich, zweifellos in der Absicht, das Richtige zu tun, verrannt hat. Stopp – bevor mich jetzt einer einen Unmenschen nennt – sie ist nicht gut. Aber denkt an die 0-10 Skala.

Es gab mal ein Deutschland, das in dem ich aufgewachsen bin, in dem die Regierung den Bürgern die Fakten aufbereitet und erklärt hätte. Der Staat informiert euch. Er sagt euch, wie ihr euch schützen könnt. Er sagt aber auch, dass es Lebensrisiken gibt, welche man unter Abwägung aller Interessen leider nicht zu 100 Prozent ausschalten kann. Den fünf bis zehn Prozent, die sich nicht selbst schützen können, wäre er zur Seite gestanden. Aber nicht 30 bis 40 Prozent und schon gar nicht allen, die nicht rechtzeitig auf den Bäumen sind. Er hätte sicher trotzdem Clubs schließen, Großveranstaltungen in Innenräumen begrenzen müssen und weiteres. Vor allem aber hätte er dafür nicht alle anderen eingesperrt und nicht diejenigen, die zuvor seine Hygienevorschriften umgesetzt haben, über ein halbes Jahr lang geschlossen. Und ganz sicher hätte er nicht die „Leute, die dieses Land aufgebaut haben“ in ihren Heimen eingesperrt und dort nach zweimaliger Impfung mutterseelenallein verrecken oder auch nur wertvolle Tage ihrer verbliebenen Lebenszeit so zubringen lassen.

Irgendwann in den letzten zehn bis 20 Jahren Jahren ist mir dieses Deutschland leider verloren gegangen. Vielleicht hatte ich ja auch nur davon geträumt…

 

 

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