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„„Corona macht Depressive noch depressiver““, Veröffentlicht: Freitag, 10. September 2021, 9.03 Uhr

„Corona macht Depressive noch depressiver“

Depressionen nehmen zu. Gerade in den vergangenen eineinhalb Jahren, während der Corona-Krise. Das bestätigen übereinstimmend auf Nachfrage der NRWZ Silke Kammerer von der Psychologische Familien- und Lebensberatung der Caritas in Rottweil, die Diplom-Psychologin Sofija Bergmann, Elke Rauls von der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg und der Chefarzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie II im Vinzenz von Paul-Hospital, Dr. Karsten Tschauner. Aus der Sicht dieser Institutionen und jener der Therapeutin wird die NRWZ das Thema in mehreren Beiträgen in einer kleinen Serie beleuchten. Heute: die Sicht der Caritas.

Für diejenigen, die eine Veranlagung zu depressiven Stimmungen haben, seien die bisherige Corona-Zeit „sehr herausfordernd“ gewesen. Das sagt Silke Kammerer von der Psychologische Familien- und Lebensberatung der Caritas in Rottweil. Wir haben uns mit ihr unterhalten. Aber auch, dass Jugendliche nun zunehmend betroffen seien. “ Gut, dass sie sich jetzt Hilfe holen.“

NRWZ: Können Sie eine Zunahme depressiver Symptome in den vergangenen 1,5 Jahren bestätigen? Wenn ja, wie äußern sich diese bzw. mit welchen Beschwerden kommen die Menschen zu Ihnen?

Zu Beginn der Corona-Pandemie haben wir insgesamt sehr viel Unsicherheit gespürt, eine neue Situation, mit der wir uns alle arrangieren mussten. Je länger der Lockdown andauerte, desto mehr Menschen haben sich bei uns gemeldet, denen nach und nach die Kraft ausging. Eltern, Lehrer, Schüler, Senioren, Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten usw. In Bezug auf die Pandemie ging es vor allem um Themen der Überlastung, Einsamkeit, Ängste, Antriebsminderung und depressive Stimmung und den Umgang mit der unberechenbaren, neuen Situation. Hinzu kamen vielfach noch finanzielle Sorgen.
Wenn nicht klar ist, wie lange etwas dauert und welche Auswirkungen etwas haben wird, wenn Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten fehlen, wir also eine gewisse Hilflosigkeit erleben, sind Situationen für uns besonders schwer auszuhalten. Deshalb ist es nur verständlich, dass sich viele Eltern schon vor der eigentlichen Schulöffnung etwas besser fühlten, einfach, weil eine Perspektive da war, wieder geplant werden konnte, und die Aussicht auf etwas Entlastung in Sicht war.

Von den Jugendlichen haben wir lange Zeit keine verstärkten Anfragen feststellen können. Dies hat sich allerdings in den letzten Monaten sehr verändert. Gut, dass sie sich jetzt Hilfe holen. Gerne schiebe ich hier noch kurz mit ein, dass Jugendliche selbstständig, auch ohne Wissen der Eltern, zu uns in die Beratungsstelle kommen dürfen.

Für diejenigen, die eine Veranlagung zu depressiven Stimmungen haben, waren die letzten 1,5 Jahre besonders herausfordernd. Wenn die Tagesstruktur wegbricht, Hobbys nicht mehr gepflegt werden können und sämtliche Lebensbereiche von der Pandemie betroffen sind, hat dies Auswirkungen.
Mir fällt dazu eine etwa 50-jährige Frau ein, die einige Jahre immer wieder unter Depressionen litt und durch den Aufbau eines sozialen Netzes, die Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung, Pflege verschiedener Hobbys, begleitenden Beratungsgesprächen lange Zeit sehr stabil war. Mit der Pandemie fielen die meisten dieser Dinge ganz weg oder fanden nur noch in stark veränderter Form statt. Die Frau fühlte sich wieder sehr einsam, hatte große Schwierigkeiten, morgens aus dem Bett zu kommen, die Stimmung wurde schlechter und je länger die Phase dauerte, umso mehr rückte auch wieder das Thema Suizidalität in den Vordergrund. Bei einem Psychiatrieaufenthalt und weiterer ambulanter Begleitung konnte sie inzwischen wieder etwas Energie tanken. Zum Glück war sie in der Lage, sich diese Hilfe zu holen.

Vereinfacht könnte man sagen „Corona macht Depressive noch depressiver“. Bei Menschen, die eine Veranlagung zur Depression haben, ist sie vielleicht auch ein Auslöser, dass eine depressive Phase beginnt. Grundsätzlich entsteht eine Depression aus dem Zusammenwirken von verschiedenen Faktoren und ist eher nicht alleinige Folge schwieriger Lebensumstände.

Silke Kammerer. Foto: Caritas

NRWZ: Betreffen die psychosozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise auf die einzelnen Menschen eine bestimmte Bevölkerungsschicht, eine bestimmte Altersgruppe? Bzw. wer leidet besonders stark und wer ist in der Lage, die persönlichen Einschränkungen abzufedern?

Insgesamt würde ich sagen, dass die Coronazeit Schwierigkeiten, die schon vor der Pandemie da waren, verstärkt hat und das über sämtliche Bevölkerungsschichten.

Vor allem für die Personengruppen, die es vor der Pandemie schon schwer hatten, wurde es noch schwieriger. Alleinerziehende, die plötzlich keine Kinderbetreuung mehr hatten, erst mal keine Notbetreuung in Anspruch nehmen konnte, da ihr Beruf nicht als systemrelevant galt oder ihre Teilzeittätigkeit durch die Pandemie verloren.

Menschen, die die deutsche Sprache noch nicht beherrschen und dann viele wichtigen Erledigungen mit Ämtern etc. telefonisch erledigen sollten.
Senioren, die ihre Enkel nicht mehr sehen konnten und sich isoliert und einsam fühlten. Vorteile haben Menschen, mit einem guten sozialen Netz, die während der Kontaktbeschränkungen online oder telefonisch weiter gepflegt wurden, die sich im Freien mit Anderen getroffen haben und die offen und flexibel für neue Ideen waren. So mancher hat in der Zeit ein neues Hobby entdeckt oder Dinge erledigt, die schon lange anstanden.

Jüngere Kinder können besonders gut mit der Situation umgehen, wenn sie sich eine konkrete Vorstellung machen können und um die konkrete Auswirkung auf ihr Leben wissen, etwa das Coronavirus sieht aus wie ein roter Ball mit Stacheln und wenn die Gaststätte geschlossen hat, gehen wir mit der Familie ein Picknick machen. So wird die Situation für sie einschätzbar und ein Umgang kann damit gefunden werden.

NRWZ: Ist es denn korrekt, die aktuellen Lebensumstände für eine mutmaßliche Zunahme psychischer Erkrankungen verantwortlich zu machen oder spielen andere Faktoren hinein?

Soziale Kontakte, Freundschaften, eine klare Tagesstruktur, Bewegung, die Pflege von Hobbys etc. tragen maßgeblich zu unserer psychischen Stabilität bei. In all diesen Bereichen gab und gibt es Einschränkungen durch die Coronapandemie. Gleichzeitig ist eine Krise auch eine Möglichkeit für Weiterentwicklung und die Entdeckung von Neuem. Viele Menschen haben sehr viel im Bereich Digitalisierung dazu gelernt. Manche haben nicht nur ihre Keller und Bühnen entrümpelt, sondern auch bei sich selbst priorisiert, welche Freizeitaktivitäten und Freundschaften sie weiterhin pflegen möchten. Vielleicht ein Schritt weg vom höher, schneller, weiterhin zur Entschleunigung, Selbstfürsorge und differenzierter Auswahl. Fakt ist, dass die Psychiatrien, auch die Kinder- und Jugendpsychiatrien, aktuell extrem ausgelastet sind. Trotzdem würde ich Corona mit all seinen Einschränkungen als einen von mehreren Faktoren sehen, die eine Rolle spielen.

NRWZ: Was raten Sie (jungen, älteren) Menschen (oder jenen mittleren Alters), wenn sie an sich Verstimmungen, Traurigkeit, Angst, Reizbarkeit etc. feststellen?

Wenn sich eine Ursache für die Stimmung finden lässt, ist es gut genau dort anzusetzen. Bin ich reizbar, weil ich so viel Stress habe? Wie und wo kann ich Aufgaben und Stress minimieren? Bin ich traurig, weil ich so viel alleine bin? Wie kann ich das ändern? Wer kann mich dabei unterstützen? Es sei mir hier noch der Hinweis auf das Zuhörtelefon der Caritas Schwarzwald-Alb-Donau erlaubt. Hier kann man anrufen, einfach, wenn man mit jemandem reden möchte.

Angst ist grundsätzlich ein hilfreiches Gefühl, welches uns vor Gefahren schützt. Auf Angst reagieren wir normalerweise mit Vermeidungsverhalten. Dadurch wird die Angst nicht kleiner, sondern größer. Wenn wir also eine übersteigerte, nicht mehr der Situation angepasste Angst haben, ist es wichtig diese Schritt für Schritt anzugehen. Manchmal hilft es, sich an bereits bewältigte Krisen in der Vergangenheit zu erinnern und zu überlegen, was damals geholfen hatte, um wieder einen Weg zu finden.

Und natürlich gibt es immer die Möglichkeit sich einen Beratungstermin bei unserer Psychologischen Familien- und Lebensberatung zu holen, einfach anrufen 0741/246-135. Wir bieten Beratungen im direkten Kontakt, als Online-Beratung, Videochat-Beratung, Telefonberatung oder Beratung im Freien an.
Ich sehe es als eine große Stärke an, wenn Menschen externe Hilfe in Anspruch nehmen, wenn eigene Möglichkeiten nicht (mehr) ausreichen. Unsere Erziehungsberatung kann von allen Familien im ganzen Kreis Rottweil genutzt werden. Sie wird durch den Landkreis Rottweil und durch die Caritas finanziert. Die Familien müssen also für die Erziehungsberatung nichts bezahlen. Im Bereich der Paar- und Lebensberatung bitten wir um eine Kostenbeteiligung, angepasst an das jeweilige Einkommen der Ratsuchenden.

Nähere Informationen sind auf unserer Homepage zu finden: www.caritas-schwarzwald-alb-donau.de

NRWZ: Gibt es bei Ihnen aktuell eine Wartezeit für neue Klienten?

In der Erziehungsberatung bekommen Ratsuchende innerhalb von 14 Tagen einen Termin, es sei denn sie haben ganz besondere terminliche Wünsche und eigene enge Zeitfenster. Auch in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung können wir momentan recht kurzfristig Termine vergeben. Da hatten wir in der Vergangenheit auch schon eine Warteliste.

NRWZ: Wie lange dauert durchschnittlich eine Therapie innerhalb etwa einer mittelschweren oder schweren depressiven Phase? Können Sie diese selbst abdecken oder ordnen Sie etwa eine psychologische Praxis nach?

Als Psychologische Familien- und Lebensberatung bieten wir niederschwellig und kurzfristig Beratungen an, sind jedoch nicht für langfristige therapeutische Prozesse, die eine umfassendere Begleitung benötigen, zuständig. Gerade, auch wenn Medikamente/Antidepressiva benötigt werden, ist es wichtig, dass ein entsprechender Arzt am Therapieprozess beteiligt ist. Die durchschnittliche Dauer einer depressiven Episode liegt bei 4-6 Monaten und kann ab einer Dauer von zwei Wochen diagnostiziert werden.

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