Das Haus, um das es in dieser Geschichte geht, steht in der Landenberger Straße in Schramberg. Es wurde in den frühen 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebaut. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Haus durch einen Bombentreffer schwer beschädigt. Es gab aber keine Opfer zu beklagen. In den beiden Nachbarhäusern starben zwei Familien. Aber das wäre eine andere Geschichte. Hier geht es um das Mädchenzimmer und eine außergewöhnliche Uhr, eine ATO-Uhr von Junghans die dort einst hing.
Sehr exakte Elektrouhr
Ob diese Uhr zu jener Zeit schon in dem Zimmer hing, ist nicht mehr herauszufinden. Leon Hatot, ein französischer Uhrmacher, hatte diese erste kontaktlos gesteuerte Uhr zwar in den zwanziger Jahren erfunden, aber ob sie dann schon wenige Jahre später bei Junghans gebaut wurde, ist eher unwahrscheinlich.
Die ATO-Uhren sind Großuhren, die durch zwei Spulen und einen Dauermagnet gesteuert werden. Sie gehörten damals zu den genauesten Uhren der Welt. Mit ihnen konnte man auch andere Uhren mit einem Schrittmotor ansteuern. Man sah sie auf öffentlichen Plätzen, Bahnhöfen oder an öffentlichen Gebäuden. Eine Steueruhr steuerte viele große Uhren.
Teile im Nähkästchen
Junghans hatte sich damals die Rechte der ATO-Uhr von der insolventen Schwenninger Uhrenfabrik Haller & Benzing gekauft und stellte die „Franzosenuhr“ in großen Stückzahlen her. Zumindest Teile dieser Uhr fanden sich in den Nähkästchen vieler Schramberger Hausfrauen: Nämlich gerundete Magnete, die die Stecknadeln zusammenhielten und auch dazu dienten, selbige wieder zusammenzusammeln, sei es auf dem Boden oder auf dem Tisch. Diese Magnete stammten größtenteils aus den Beständen für die ATO Uhr.
Nach dem Krieg hing eine ATO-Uhr ganz sicher im Mädchenzimmer der kleinen Margret in der Landenberger Straße. Ihr Vater war Betriebsleiter beim „Bappedeckelmaier“, einer Kartonagenfabrik in Schramberg. Er konnte sich so eine vornehme Uhr leisten. Die Familie lebte in Miete in dem Haus. Meine Frau und ich erbten später das Haus und bauten es in den 80er Jahren um.
Umzugs-Uhr
Die kleine Margret war da längst erwachsen und ausgezogen. Durch den Tod ihrer Eltern hatten wir uns kennengelernt. Seither verbindet uns mit Margret und ihrem Ehemann eine enge Freundschaft.
Im Jahr eins vor Corona habe ich bei einem Besuch von Margret und ihrem Mann den beiden eine Führung durchs Erfinderzeiten Museum angeboten. Bei der Vitrine mit den ATO Uhren angekommen, schwärmte ich den beiden vor, wie toll die Uhr wäre und Elektrik hinten und Magnetismus vorne. Da unterbrach Margret mich leicht genervt: „Ich bin in meinem Leben bestimmt sechs Mal umgezogen“, erzählt sie. „Und bei jedem Umzug habe ich so eine blöde Uhr aus dem Keller in die Umzugskiste gepackt und danach wieder achtlos in das nächste Kellerregal geschmissen. Oft dachte ich: ‚Jetzt schmeiß‘ ich das Ding in den Müll.‘ Aber das habe ich dann doch nicht übers Herz gebracht.“

Zurück zu den Wurzeln
Auf meine entsetzte Frage: “Hast du sie noch?“ bekam ich die nicht so begeisterte Antwort: „Glaub‘ nicht. Muss mal sehen.“ Bei unserem nächsten Gegenbesuch lag sie da. Auf der Anrichte. Einfach so. 60 Jahre lang achtlos behandelt. Unter Patina, aber alles war da. „Die schenk ich dir, dann bin ich das Teil endlich los“, meinte Margret.
Die von Junghans eigens für die ATO entwickelte Batterie war natürlich ausgelaufen. Und die Kabel waren durch die Säure stark beschädigt. Nachdem ich das gute Stück gereinigt und eine neue Batterie eingebaut hatte, hängte ich das technische Wunderwerk an denselben Platz im Mädchenzimmer, an dem sie vor 60 Jahren schon gehangen hatte. Ein kleiner Schubser am Dauermagnet – und die ATO-Uhr fing wieder an zu ticken.
Lass se laufa
Ich habe einen befreundeten Uhrmacher gefragt, ob ich die Uhr reinigen oder sonst einem Kundendienst unterziehen soll. Er meinte nur: „Wenn se lauft, dann lauft se. Lass se laufa.“