Gehörlosenschule in Heiligenbronn. Im Rahmen des digitalen Fachtages zur Heimkinderzeit, haben die Franziskanerinnen von Heiligenbronn und die Stiftung St. Franziskus mit Experten und einem ehemaligen „Heimkind“ über die Verantwortung für vergangenes Leid und Unrecht diskutiert. Foto: Stiftung
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Im Rahmen eines digitalen Fachtages am 25. November haben die Franziskanerinnen von Heiligenbronn und die Stiftung St. Franziskus mit Experten und einem ehemaligen „Heimkind“ über die Verantwortung für vergangenes Leid und Unrecht diskutiert. Über die Ergebnisse berichtet die Stiftung in einer Pressemitteilung:








Schwester M. Agnes Löber, Generaloberin des Klosters Heiligenbronn, und Dr. Thorsten Hinz, Vorstand der Stiftung St. Franziskus, hätten sich gleich zu Beginn des Fachtages klar zur eigenen Verantwortung für die Heimkinderzeit positioniert: „Die Schwestern und die Stiftung St. Franziskus bedauern zutiefst etwaige Verfehlungen und bitten die Betroffenen um Verzeihung. Das Kloster Heiligenbronn und die Stiftung St. Franziskus als dessen Rechtsnachfolger in den sozialen Aufgaben bekennen sich zur Verantwortung für Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen ehemaliger Kinder und Jugendlicher in der Heimerziehung nach dem Zweiten Weltkrieg.“

Für beide sei es aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar und auszuhalten, dass eine auf dem Evangelium basierende Sozialarbeit in der damaligen Zeit Mittel, Methoden und Instrumente einsetzte, die dem christlichen Menschenbild zutiefst widersprächen. Im Fachtag sei es unter anderem auch darum gegangen, genau diese schmerzhaften und schwierigen Widersprüche in den Blick zu nehmen.

Schmerzhafte Erlebnisse

Pandemie bedingt konnte der Fachtag leider nur digital stattfinden. Über 100 Teilnehmer hätten Professor Dr. Annerose Siebert (Hochschule Weingarten-Ravensburg) und Profesor Dr. Paul-Stefan Roß (Duale Hochschule Baden-Württemberg) fachlich über die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Heimkinderzeit in der Behinderten sowie Kinder- und Jugendhilfe in der Zeit von 1949 bis 1975 informiert. Ein Interview zwischen einem ehemaligen „Heimkind“ und Schwester M. Agnes zeigte, wie bedrückend und schmerzhaft bis heute die Erlebnisse von damals nachwirken.

Ein “Haus des Schreckens?”

Unter der Überschrift “Nonnen, Sex und Kinderarbeit” berichtete im Dezembert 1969 das linke Magazin “Konkret” aus Heiligenbronn. Kinderarbeit sei dort “gang und gäbe” gewesen. Das Heim “für behinderte, blinde, taube und verhaltensgestörte Kinder. Ein Haus des Schreckens”.

Was sich tatsächlich damals abgespielt hat, schilderte bei der Tagung ein ehemaliges Heimkind an der Mädchenschule Heiligenbronn. Die heute 58-jährige, die im Alter von sechs Jahren nach Heiligenbronn gekommen war und dort ihre Schulzeit verbrachte, erzählte im Gespräch mit Generaloberin Schwester Agnes von “einem Leben ohne Privatsphäre” im Heim. Außerdem berichtete sie von ihrer strengen Erzieherin in der Grundschulzeit, einer Ordensschwester.

Traumatisch für sie war die Allgegenwart von Strafen: „der strafende Gott, der alles sieht“. Sie berichtete aber auch von Szenen, in denen Mitschülerinnen regelrecht erniedrigt wurden. Sie habe sich nach ihrer Schulzeit nur schwer wieder davon befreien können, konnte das Erlebte aber über späteren Kontakt zu den Schwestern wieder relativieren und wenigstens zu einem guten Teil verarbeiten.

Nichts wert

Professorin Siebert zitierte aus Interviews mit ehemaligen Heimkindern, die ebenfalls das Gefühl vermittelt bekamen, als eigenständige Person nichts wert zu sein und körperliche und seelische Gewalt, Strafen und Stigmatisierung erfahren haben.

Sie ging auch auf die beengenden Rahmenbedingungen ein zzm Beispiel mit bis zu 30 oder 40 Jungen oder Mädchen in einem Schlafsaal.

Üble Strafen

Ewald Graf, Leiter des Archivs der Stiftung St. Franziskus, beleuchtete die Thematik, die sich aus den Akten sonst oft gar nicht belegen lässt, mit einigen Fundstücken, die zeigten, dass die erzieherische Autorität in den Klostereinrichtungen notfalls auch mit Schlägen oder zumindest Androhung von Strafen („auf die Bühne zu den Ratten und Mäusen“) durchgesetzt wurde.

Das pädagogische Klima habe sich jedoch, berichtete die ehemalige Heimschülerin zum Abschluss, zum Ende ihrer Schulzeit in den 1970er Jahren gewandelt und sei liberaler geworden.

Graf informierte darüber, welche Anstrengungen in der Stiftung unternommen würden, um einerseits ehemaligen Heimkindern Hilfe und Auskunft zu geben und um andererseits die eigene Aufarbeitung voranzubringen. Bisher hätten sich bereits mehr als 180 ehemalige Heimkinder beziehungsweise deren Angehörige, bei der Stiftung oder dem Kloster gemeldet, um mehr über ihre eigene Geschichte zu erfahren und auch, um Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Die angebotenen Gespräche und die Akteneinsicht seien weiterhin möglich.

Hilfsangebote teilweise ausgelaufen

Bis zum 30. Juni 2021 konnte die Stiftung St. Franziskus die ehemaligen Heimkinder der Behindertenhilfe auch an die Beratungsstellen der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ verweisen, die konkrete Hilfen bewilligten. Seit Juli seien diese Anträge nicht mehr möglich. Auch die verschiedenen Heimkinderfonds der Kinder- und Jugendhilfe hätten bereits ihre Hilfsleistungen beendet.

Alle Personen, die als Minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs durch Kleriker, Ordensangehörige oder andere Mitarbeiter im Dienst der Katholischen Kirche in Deutschland geworden seien, könnten allerdings seit 2011 und auch zukünftig einen Antrag auf Leistungen in Anerkennung des ihnen zugefügten Leids bei den jeweiligen Ansprechpartnern in den einzelnen Diözesen stellen. Im Falle der Diözese Rottenburg Stuttgart sei dies die Geschäftsstelle für sexuellen Missbrauch beim Bischöflichen Ordinariat in Rottenburg.

Aus Fehlern lernen

Der Fachtag habe Bedrückendes gezeigt und zu Tage gebracht. Fragen und Kommentare aus dem Chatforum der Veranstaltung belegten, wie betroffen viele Teilnehmer von der Zeitreise waren. Alle Referenten des Fachtages seien sich entsprechend einig gewesen, dass es wichtig sei, aus der Geschichte zu lernen und über diese immer wieder auch zu informieren. In der Gegenwart und Zukunft gelte es gewappnet zu sein und keine Bedingungen zuzulassen, die Gewalt oder Missbrauch ermöglichten.

In dieser Hinsicht sei es konsequent, dass die Stiftung St. Franziskus seit geraumer Zeit viele Ressourcen in die Aufarbeitung, aber auch in die ganze praktische Präventions- und Aufklärungsarbeit investiere. Mit Simone Fader habe die Stiftung St. Franziskus eine hauptamtliche Präventionsbeauftragte, die alle diese Maßnahmen für die Stiftung bündele. “Die Klostergemeinschaft in Heiligenbronn wie auch die Stiftung St. Franziskus bekennen sich zu einer ‘Kultur des Hinsehens’“. heißt es abschließend.

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