Der Publizist Christian Nürnberger sprach am Mittwochabend in der sehr gut besetzten Aula des Gymnasiums über „Die Meinungsmaschine und KI“. Eingeladen hatte ihn Marktplatz Kirche.
Schramberg. Klaus Andreae vom Leitungskreis von Marktplatz Kirche stellte den Publizisten als ausgewiesenen Fachmann vor, der sich seit Jahren kritisch mit unserer Medienlandschaft auseinandersetze. Dank Internet und sozialer Medien erreichten immer mehr Nachrichten die Menschen, aber eben auch immer mehr Falschmeldungen verbreiteten sich rasend schnell.

Christian Nürnberger bekannte zunächst, er habe noch nie etwas von Schramberg gehört, werde aber bestimmt im nächsten Jahr hier mit seiner Frau Urlaub machen.
Nach einer klassischen Journalistenkarriere – Henry-Nannen-Schule, Frankfurter Rundschau, Capital … – sei er Vater geworden. Seine Frau und er hätten beschlossen, sie solle Karriere machen, er werde sich um das Kind kümmern. Sein Hintergedanke: “Wenn das Kind schläft, kann ich Bücher schreiben.“ Das mit der Karriere von Petra Gerster hat geklappt, das mit dem schlafenden Kind weniger….
“Achte auf Deine Gedanken”
Mit einem berühmten Zitat begann Nürnberger seine eigentlichen Vortrag: „Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Deine Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Deine Taten. Achte auf Deine Taten, denn sie werden Deine Gewohnheiten. Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter. Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.“
Er habe versucht, herauszufinden, woher dieses Zitat stamme: Es heiße, es sei aus dem Talmud. „Dort habe ich es nicht gefunden.“ Bibel? Fehlanzeige, ebenso aus China, von einem englischen Schriftsteller… „Bisher wurde keine eindeutige Quelle nachgewiesen“, so Nürnberger.

Am Anfang war das Wort…
Am Anfang eines Schicksals stünden Worte. Der Gedanke gelte nicht nur für Individuen, sondern auch für Völker. Grundlage für die beiden Weltkriege und den Holocaust seien die rassistischen, imperialistischen und antisemitischen Gedanken des 19. Jahrhunderts gewesen. „Worte gehen Taten voraus.“ Das sei auch bei den Anschlägen von Neonazis so. Umgekehrt seien die Worte der Aufklärung Voraussetzung für Demokratie gewesen.
Und da kommen für Nürnberger die Medien ins Spiel: „Medien sind mächtige Hirnveränderungsmaschinen.“ Mit der Entwicklung von Computern und des Internets sei es immer leichter geworden, an Informationen zu kommen. Bill Gates habe schon vor mehr als 30 Jahren davon gesprochen, die Menschen erhielten nun „Information at your fingertips“.
(Exkurs: Ich wollte das Zitat überprüfen und habe in der bing-Suchmaschine im Chat die Frage eingegeben und erhielt nach wenigen Sekunden diese Auskunft: „Ja, Bill Gates hat in seiner Keynote-Rede auf der Comdex-Computerfachmesse im Jahr 1990 den Ausdruck “Information at your fingertips” verwendet¹. Er betonte, dass der Personal Computer eine breite Rolle bei der Bereitstellung von Informationen spielt und als Fenster zur Welt der Information dient³⁴. Der Ausdruck wurde jedoch nicht von Bill Gates selbst geprägt, sondern wurde bereits in den 1970er Jahren von der Information Industry Association verwendet⁵. Gibt es noch etwas, womit ich Ihnen helfen kann?“ Es folgt die Aufzählung einer Reihe von Quellen. Da hat KI mir enorm geholfen.)
Die fünfte Gewalt
Nürnberger betonte, durch das Internet seien Wissen und Informationen demokratisiert worden. „Es gibt keine Meinungsmonopole mehr. Jeder und jede kann Informationen oder Meinungen verbreiten.” So sei eine fünfte Gewalt entstanden, die der traditionellen vierten Gewalt – analoge Zeitungen und Rundfunk – Konkurrenz mache und diese kritisiere.
Einerseits demokratisiere das Netz, andererseits werde aber auch immer mehr Desinformation im Netz verbreitet. Wissenschaft werde negiert, Holocaustleugner, Coronaleugner Esoteriker, Rechtsradikale, Putinverehrer und so weiter vermüllten das Internet. “Das ist ein Angriff auf die Aufklärung, den man bis vor kurzem für unmöglich gehalten hätte“, so Nürnberger. Er erinnerte daran, dass 2015 kein Mensch es für möglich gehalten hätte, dass jemand wie Donald Trump US-Präsident werden könne.
Aiwanger macht den Trump: Ihr seid die Opfer der Elite
Ein anderes Beispiel für Nürnberger ist die Affäre Aiwanger. Vor einigen Jahren hätte ein Politiker eine solche Geschichte nicht so leicht überstanden. Statt ehrlich zu bereuen, habe Aiwanger erst alles abgestritten und dann auf den Bruder geschoben. Dann aber habe Aiwanger die „Methode Trump“ gewählt, sich zum Opfer stilisiert.
Und er sei noch weiter gegangen und habe seinem Publikum eingeredet: „Ihr als ‘normale Menschen’ seid die Opfer einer Kampagne. Die Eliten sind schuld, ich zeige es denen da oben.“ Das Narrativ gehe so: Ihr müsst nichts ändern, die anderen sind schuld – und für den Rest sind die Grünen verantwortlich.
Flute das Netz mit Shit
Schon Trumps Berater Steve Bannon habe einst empfohlen: „Flute das Netz mit shit…“ Irgendwann glaubten die Menschen dann niemandem mehr.
Die großen Konzerne wie Facebook, Microsoft und Google könnten das technisch leicht verhindern, täten das aber nicht, weil sie an den Desinformationskampagnen verdienten. Viele Menschen lesen das gern und bleiben daran – und die Konzerne können ihre Werbung verkaufen. Nürnberger: „Die Lüge verbreitet sich viel schneller als die Fakten.“
Die Konzerne könnten die Falschinformationen leicht erkennen und unterdrücken, täten das aber eben ganz bewußt nicht. Die EU versuche, sie dazu zu zwingen, das sei aber schwierig, weil die Konzerne in den USA sitzen.
KI mit Licht und Schatten
Mit der „Künstlichen Intelligenz“, KI, werde dies alles noch zunehmen. Nürnberger erinnerte an ein Video aus dem US-Wahlkampf vor fünf Jahren. Da hatte ein gefälschtes Video mit der demokratischen Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi für Aufregung gesorgt. Es klang, als ob die Politikerin betrunken sei. Dabei hatten die Fälscher das Video nur etwas langsamer ablaufen lassen und die Stimme verändert. Das sei schnell erkannt worden, doch das Video sei noch lange im Netz geblieben.
Heute mit KI sei es ein Kinderspiel, den Bundeskanzler sagen zu lassen, man solle Nancy Faeser keinesfalls in Hessen wählen. Nürnberger fürchtet, die eigentliche Flut von Falschmeldungen komme erst noch. Er warnt: „Wenn es nicht gelingt, das Netz von der Gülle zu befreien, geht es mit unsrer Demokratie zu Ende.“
Der Gesetzgeber muss handeln
Deshalb sei der Gesetzgeber gefragt. Er müsse dafür sorgen, dass die Konzerne ihre technischen Mittel nutzen, um Falschinfos aus dem Netz zu entfernen. Zugleich müssten wir alle mehr Medienkompetenz entwickeln. Prüfen, ob etwas plausibel ist, ob ein Bild stimmen kann, woher die Information stammt.
Nürnberger empfahl die „Rückkehr zu den analogen Medien, seriöse Zeitungen und den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk”. In einem Exkurs schilderte er, wie Nachrichtenredaktionen arbeiten, wie Nachrichten entstehen, wie die Auswahl geschieht.
Vertraut seriösen Medien: Die kontrollieren sich gegenseitig
In den Nachrichtenredaktionen würden die Fakten und Quellen gründlich geprüft, bevor sie gesendet oder gedruckt werden. Da alle Redaktionen ähnlich verfahren, sei es am Ende auch kein Wunder, dass auch alle Medien annähernd das gleiche berichteten.
Natürlich passierten auch bei seriösen Medien Fehler. Aber: „Die Medien kontrollieren sich gegenseitig.“ Der Stern beispielsweise habe sich nach dem Skandal mit den „Hitlertagebüchern“ eigentlich nie wieder davon erholt. Der Spiegel habe die „Relotiusaffäre“ selbst aufgeklärt und leide bis heute darunter.
Durch die breit aufgestellten Redaktionen bei den Öffentlich-Rechtlichen sei sichergestellt, dass es keine einseitige Berichterstattung gebe. Insofern findet Nürnberger es auch in Ordnung, dass Politikerinnen und Politiker in den Gremien vertreten seien. Auch das sorge für Ausgewogenheit.
Relevant und wichtig
Journalisten hätten eine „Torwächterfunktion“, sie wählten aus der Unmenge von Nachrichten diejenigen aus, die für ihr Publikum wichtig und relevant seien. Relevant sei, was viele Menschen betrifft oder betroffen macht.
Fukushima habe viele Deutsche betroffen gemacht, weil damals sehr viel über Atomkraft diskutiert wurde. Ein Anschlag auf Bali mit deutschen Opfern betreffe möglicherweise Menschen hier. “Es hätte mich treffen können.“
Viele fragten sich: „Werden wir richtig informiert?“ Und Nürnberger findet, ja. Die Konkurrenz auf dem Medienmarkt zwinge die seriösen Medien, sich und ihre Inhalte zu prüfen. „Wer schlecht arbeitet, fällt raus.“ Es gebe gemeinsame Regeln, die Medien kontrollierten sich da gegenseitig.
Von seiner Struktur her und wegen der Gebührenfinanzierung sei der Öffentlich-rechtliche Rundfunk das „unabhängigste Medium überhaupt“, so Nürnberger. Schließlich forderte er seine Zuhörerinnen und Zuhörer auf: „Achten Sie auf Ihre Gedanken…“
Publikum fragt nach
In der anschließenden Diskussion fragte Klaus Andreae, wie sich Nürnberger vorstelle, dass Facebook und Co in ihre Schranken verwiesen werden könnten. Nürnberger verwies auf die hohen Strafen, die die EU verhängt habe. Man müsse die Konzerne gesetzlich dazu verpflichten ihre Algorithmen öffentlich zu machen. Gegen Falschberichterstattungen in den sozialen Medien müsse der Gesetzgeber vorgehen.

Ein Besucher fragte, wer denn entscheide, was Lüge und was Wahrheit sei. Es gehe ihm nicht um die letztgültige Wahrheit, sondern „um Fakten, die sich belegen lassen“, erwiderte Nürnberger. Seriöse Medien ließen Fachleute zu Wort kommen, auch solche mit abweichenden Überzeugungen.
Eine andere Frage befasste sich mit den verschiedenen Sichtweisen auf die Welt, in Europa und beispielsweise in China. Nürnberger stimmte dem zu. Viele Minderheiten beklagten zu Recht, ihre Sicht auf die Wirklichkeit käme in den Medien zu kurz.
Herdentrieb der Journalisten
Ein anderer Fragesteller erinnerte an die Zeit nach den Anschlägen vom 11. September in New York. Da hätten praktisch alle Qualitätszeitungen in den USA die Geschichte von den Massenvernichtungswaffen erzählt.
Es gebe tatsächlich auch im Journalismus „einen Herden- und Rudeltrieb“, entgegnete Nürnberger und erinnerte an die Skandalsuche beim damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff. Es sei damals „Saure-Gurken-Zeit“ gewesen und alle hätten sich auf Wulff gestürzt. „Hinterher haben die Journalisten das dann auch selbstkritisch eingesehen.“
Mit Blick auf den Reformbedarf bei den Öffentlich-Rechtlichen forderte Nürnberger „mehr Geld für Recherchen und Dokus statt für Fußball“ und bat die Besucherinnen und Besucher, sich an die Intendanten zu wenden, wenn sie Kritik am Programm hätten. „Das wird beachtet.“
Auch nach dem offiziellen Schluss trafen sich die Gäste im Foyer des Gymnasiums um „marktplatz-typisch“ bei einem Glas Wein oder Bier noch weiter zu diskutieren.
Gandhi war’s – oder doch nicht?
Bleibt noch nachzutragen, dass „Bing chat“ Mahatma Gandhi für den Urheber des Zitats: Achte auf deine Gedanken … hält: „Dieser Satz ist ein Zitat von Mahatma Gandhi, einem indischen Anwalt, Politiker und Menschenrechtsaktivisten.“ Dann gibt KI eine Quelle an – und da steht dann wieder etwas ganz anderes: https://zitat-sammlung.marco-elling.de/2011/09/zitat-achte-auf-deine-gedanken-denn-sie.html Viel Spass beim Quellenstudium.