Sein Schreibtisch im Amtsgericht Oberndorf leert sich langsam. Die letzten Verfahren schließt Raphael Lutz-Hill noch ab oder bereitet sie so auf, dass ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin leichter weiter machen kann. Vor gut zwei Jahren war er ans Amtsgericht gekommen, um seine Richterausbildung abzuschließen. Nun wird er ans Amtsgericht Reutlingen versetzt.
Da der junge Familienvater aus Rottenburg stammt, eine deutliche Verbesserung: „Obwohl, ich muss dann täglich durch Tübingen durch…“, schränkt er im Gespräch mit der NRWZ ein. Im Vergleich zu Lutz-Hills erster Stelle bei der Staatsanwaltschaft in Lörrach war auch Oberndorf – entfernungsmäßig – schon ein großer Fortschritt.
Breites Spektrum
„Ich wurde hier mit offenen Armen empfangen“, erinnert er sich an den Start im Juli 2018. Amtsgerichtsdirektor Wolfgang Heuer habe sich seiner angenommen, denn die Assessoren befinden sich noch in Ausbildung. „Er hat mich durchaus kritisiert, aber ich habe auch immer seine Hilfe gesucht.“
In seinem großen Büro im obersten Stock des Amtsgerichts hat Lutz-Hill einen tollen Blick über das Neckartal und den gegenüberliegenden Hang. Viel Zeit zum Hinausschauen hatte er allerdings nicht. „Ich war hier für fast alles zuständig: Von der Ordnungswidrigkeit über Zivilsachen bis zum Familien- und Betreuungsrecht. Vertretungsweise auch im Strafrecht.“
Einblick in familiäre Verhältnisse
Besonders das Familienrecht hat es Lutz-Hill angetan. Da war er für den Raum Schramberg zuständig: „Familienrecht ist anspruchsvoller als einen Unfall zu bearbeiten, bei dem es nur ums Geld geht.“ Deshalb müsse man auch mindestens ein Jahr Berufserfahrung als Richter nachweisen, bevor man mit Scheidungen, Unterhaltszahlungen oder gar Fällen, in denen es um Kindeswohlgefährdungen geht, zu tun bekommt.
Gerade, wenn es um Kinder gehe, werde es für den Juristen schwierig, so Lutz-Hill. Einerseits seien die Eltern in ihrem Erziehungsrecht frei, andererseits habe der Staat ein Wächteramt. Bei Kindeswohlgefährdung muss der Staat eingreifen. „Aber was heißt das, Kindeswohlgefährdung? Ist ein Kind schon gefährdet, wenn die Mutter es fünf Stunden lang fernsehen lässt?“
Viele Schritte, bevor die Justiz tätig wird
Bis sich ein Richter mit diesen Fragen beschäftigen muss, sind erst viele andere Hilfemöglichkeiten und Einrichtungen an der Reihe. Oft beobachteten Erzieher oder Lehrerinnen Besonderheiten: „Das Kind kommt im Winter mit einem T-Shirt in die Kita“, so Lutz-Hill, oder es hat nie ein Vesper dabei.“ Dann suchten die Erzieherinnen das Gespräch mit den Eltern. Wenn das nichts bringe, werde das Jugendamt eingeschaltet.
„Und erst wenn es dann nicht klappt, dann kommen diese Fälle zu uns. Da weht dann ein anderer Wind.“ Denn nun geht es um das Sorgerecht, und die Eltern merken: „Jetzt muss ich mitmachen, sonst ist mein Kind weg.“
Bevor es so weit ist, werden ausführliche Gutachten erstellt, die Kinder lange Zeit beobachtet und selbst angehört. Lutz-Hill weiß aus einem Fall aus dem Raum Schramberg, dass das „Damokles-Schwert Sorgerechtsentzug“ gereicht habe, „die Eltern wieder aufs Gleis zu setzen“. Sie hätten danach die Hilfen des Jugendamtes auch angenommen.
Nach Reutlingen mit dem Rad
Auch nach seiner Versetzung nach Reutlingen will Lutz-Hill sich ums Familienrecht kümmern. „Da geht es um etwas wichtiges“, findet der junge Richter, „nicht nur um Kratzer an Leichtmetallfelgen.“
Im Reutlingen wird er in einem größeren Amtsgericht eingesetzt. Sein neues Büro kennt er schon, „nur ein Drittel so groß wie hier in Oberndorf“, meint Lutz-Hill bedauernd. An der neuen Stelle möchte er sich ein Job-Rad leasen, ein e-Bike. Damit seien die 19 Kilometer von Rottenburg gut zu schaffen. Und wahrscheinlich kommt er auch schneller durch Tübingen durch, als mit dem Auto.