In den USA erhitzen gerade Krippen ohne Christkind die Gemüter. Rottweil hat schon lange eine – aber aus anderen Gründen.
Eigentlich ist es undenkbar: Wo Ochs und Esel traut den Stall wärmen, wo Maria und Josef andächtig staunen, da bildet das neugeborene Jesuskind die strahlende Mitte: Ein Urbild dafür, welch ein Wunder jedes Kind ist. Und dafür, dass sich mit Kindern die Welt erneuert – noch dazu mit dem ganz besonderen aus Betlehem.
Dieses verlässliche Muster wird in den USA gerade gebrochen. Zum Beispiel vor der katholischen Kirche St. Susanna in Dedham bei Boston im US-Bundesstaat Massachusetts: Dort ist die Krippe leer. Kein Kind. Und auch keine Eltern. Stattdessen ist auf einem Schild zu lesen: „ICE was here“.
Das bezieht sich freilich nicht auf einen Zug oder Minusgrade. Die Großbuchstaben stehen vielmehr für die Einwanderungs- und Zollbehörde. Und die ist für die Durchsetzung der unter Präsident Trump verschärften Einwanderungsgesetze zuständig. Unter oft fragwürdigen Umständen nehmen ICE-Mitarbeiter Menschen fest, schaffen sie außer Landes und versetzen viele in Angst.
Die leere Krippe in Dedham bei Boston nimmt darauf Bezug. Sie überträgt aktuelle Verschleppungen auf die heilige Familie, verknüpft die biblische Weihnacht mit der Gegenwart –eine provokante sozialkritische Aktion, die sowohl auf Sympathie wie auf heftigen Widerspruch stößt.
Entspannt unpolitisch ist die Sache hingegen in Rottweil gelagert. Auch am Kapellenturm, dem Kulturdenkmal von nationalem Rang, wird das Weihnachtthema dargestellt: Auf dem Bogenfeld über dem Südportal – also in Richtung Hochbrücke.
Aufgrund der aktuellen Instandsetzungsarbeiten kann man es nicht sehen, aber einander gegenüber knien dort zwei Engel. Der eine musiziert auf einer Zither, der andere präsentiert in der Bildmitte einen achtzackigen Stern. Fröhlich sehen sie aus, die beiden, mit ihren Lockenköpfen und detailreich gemeißelten Flügeln. Was allerdings fehlt: Das Christkind.
Im Bildstreifen unter dem Engel-Duo herrscht gähnende Leere. Hier hat der Steinmetz, dem durch Stilvergleich auch Darstellungen am Augsburger Dom zugeordnet werden können, vermutlich Maria im Wochenbett dargestellt: Sitzend mit dem neugeborenen Kind. Auch Josef dürfte zu sehen gewesen sein.
Warum die Weihnachtsszene fehlt, lässt sich nicht klären. Weder gibt es Abbildungen des kompletten Zustandes noch sind schriftliche Quellen bekannt, die Aufschluss über die verfrühte Abreise dieser vor bald 700 Jahren geschaffenen heiligen Familie geben könnten.
Aber auch ohne zentrale Teile ist das Ensemble reizvoll: Unter anderem lohnt ein näherer Blick auf Ochs und Esel. Beide lugen aus einem Fenster über einer geflochtenen Futterkrippe heraus. Brav stehen sie beieinander, allerdings gibt es ein neckisches Detail: Der Ochse scheint an einem Tuch zu zerren oder zu knabbern. Oft wird das Objekt des Interesses als Windel des Christkinds gedeutet – was für den Nasenkontakt des Rindviehs ja zu allerhand Gedankenspielen einlädt.

Auf der Gegenseite des Turms braucht man nicht so viel zu rätseln. Das Bogenfeld des Nordportals ist weitgehend erhalten. Hier hat ein anderer Meister um 1340 die Verkündigung und Anbetung der Könige sehr körperlich dargestellt. Im oberen Teil überbringt der Erzengel Gabriel Maria die Botschaft – eine Szene voller Spannung, deren Bedeutung dadurch unterstrichen wird, dass der linke Flügel des Engels wie ein zum Aufmerken mahnender Zeigefinger hochgestellt ist.
Überwölbt wird die Begegnung des Himmelsboten mit Maria von einem bärtigen, aber nicht allzu greise wirkenden Gottvater als Halbfigur ganz oben. Aus seiner Seite löst sich der Sohn und fliegt als Knäblein scheinbar im Kopfsprung der künftigen Mutter entgegen. Hier hat man es also gewissermaßen, das Kind, das auf der Gegenseite fehlt.

Eine solche Verbildlichung der Menschwerdung Christi war im 14. Jahrhundert populär. Durch ein Wolkenband davon getrennt wird im unteren Feld die Anbetung des Kindes durch die drei Könige geschildert. Sie huldigen dem Knaben und bringen ihm Gaben dar.
Forscher haben immer wieder auf gekonnte Details hingewiesen – etwa die Geste des in der Mitte stehenden Melchior, der auf den im Verkündigungsbild aufgegangenen Stern hinweist. Oder die modische Gewandung des rechts stehenden Balthasar, den man heute vielleicht einen Dandy oder Hipster nennen könnte.
Es sind künstlerisch herausragende Darstellungen, die hier die biblischen Berichte rund um die Geburt Christi vergegenwärtigen. Nicht von Ungefähr sind die Bildwerke am Kapellenturm als „Rottweiler Gotik“ in die Kunstgeschichte eingegangen.
Was die Wirkung für Betrachter vor Jahrhunderten noch verstärkte: Alle Bildwerke waren farblich gefasst – und das Handwerk der Bemalung galt nicht weniger als das der Steinmetze. Von den Farben gibt es leider nur noch winzige Spuren. So ist man frei, sie mit dem inneren Auge hinzufügen. Wie das fehlende Christkind.



