Die unsichtbare Pandemie – Über 1,5 Millionen Betroffene in Deutschland kämpfen mit den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion. Aktuelle Studien zeigen: Die Zahlen steigen weiter, während neue Therapieansätze Hoffnung machen.
Chronische Erschöpfung, die auch nach Monaten nicht weicht. Atemnot bei kleinsten Anstrengungen. Konzentrationsstörungen, die den Arbeitsalltag unmöglich machen. Was für viele Menschen wie eine dramatische Übertreibung klingt, ist für Long-COVID-Betroffene bittere Realität. Ende 2024 lebten laut aktuellen Modellierungen mehr als 1,5 Millionen Menschen in Deutschland mit ME/CFS oder Long COVID – Tendenz steigend.
Die regionale Dimension
Im Landkreis Rottweil waren im vergangenen Jahr 164 AOK-Versicherte wegen Long COVID in ärztlicher Behandlung, davon 101 Frauen. Die Zahlen mögen auf den ersten Blick überschaubar erscheinen, doch sie sind nur die Spitze des Eisbergs. Frauen und Mädchen scheinen häufiger als Männer von Long COVID betroffen zu sein, erklärt Dr. med. Dipl.-Psych. Alexandra Isaksson, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie bei der AOK Baden-Württemberg.
Ein Syndrom mit vielen Gesichtern
Die Symptome können verschiedenste Organsysteme betreffen und sich bei jedem Betroffenen anders äußern. Gemeinsam haben alle eines: Ihre Lebensqualität ist massiv beeinträchtigt. Schwäche und schnelle Erschöpfung, eingeschränkte Belastbarkeit, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme sowie anhaltende Atem- und Muskelbeschwerden zählen zu den häufigsten Beschwerden.
Unter Long COVID werden gesundheitliche Beeinträchtigungen verstanden, die über die akute Krankheitsphase von vier Wochen hinaus andauern. Bei manchen Betroffenen halten die Symptome monatelang, bei anderen sogar jahrelang an. Erwachsene, die wegen einer SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus behandelt wurden, haben häufiger Long COVID als Personen mit milden Verläufen. Doch auch milde oder sogar symptomlos verlaufene Infektionen können Langzeitfolgen haben.
Die wirtschaftliche Dimension
Die gesellschaftlichen Gesamtkosten durch Long COVID und ME/CFS beliefen sich 2024 auf rund 63,1 Milliarden Euro – etwa 1,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Eine im Mai 2025 veröffentlichte Studie der ME/CFS Research Foundation zeigt: Die Gesamtkosten seit Beginn der Pandemie (2020-2024) summieren sich auf über 250 Milliarden Euro.
Jörg Heydecke, Geschäftsführer der ME/CFS Research Foundation, mahnt: „Dem errechneten Schaden von 63 Milliarden Euro stehen derzeit nur etwa 15 bis 20 Millionen Euro jährlich an öffentlicher Förderung für Diagnostik- und Therapieforschung gegenüber.“
Neue Hoffnung durch Forschung
Die gute Nachricht: Die Wissenschaft macht Fortschritte. Mehrere vielversprechende Therapieansätze werden derzeit in Studien erprobt. Die reCOVer-Studie an der Universitätsklinik Erlangen zeigte, dass das Medikament BC007 bei Patienten mit bestimmten Autoantikörpern die Erschöpfungssymptome messbar lindern und die Lebensqualität verbessern konnte. Das Medikament neutralisiert funktionelle Autoantikörper, die im Verdacht stehen, Long COVID-Beschwerden mitzuverursachen.
Auch andere Ansätze werden untersucht: Eine Studie der Universität Leipzig berichtete, dass 73,5 Prozent der Long COVID-Erkrankten eine signifikante Verbesserung ihrer Symptome nach einer Nikotinpflaster-Therapie zeigten. Die Theorie dahinter: Nikotin könnte virale Proteine von blockierten Rezeptoren verdrängen und so die Nervenkommunikation wiederherstellen.
Politik reagiert – aber reicht es?
Das Bundesforschungsministerium hat die „Nationale Dekade gegen Postinfektiöse Erkrankungen“ ausgerufen. Von 2026 bis 2036 sollen rund 500 Millionen Euro in die Erforschung von Long COVID, ME/CFS und ähnlichen Erkrankungen fließen. Experten betonen: Es ist eine historische Chance für Deutschland, international eine führende Rolle einzunehmen.
Das Bundesgesundheitsministerium hat bereits 73 Millionen Euro für Versorgungsforschung bewilligt und fördert Modellprojekte zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit weiteren 45 Millionen Euro. Ende 2023 trat zudem die Long-COVID-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses in Kraft, die erstmals bundesweit einheitliche Standards für Diagnostik und koordinierte Versorgung festlegt.
Die Versorgungsrealität
Dennoch bleibt die Situation für viele Betroffene schwierig. Eine spezifische medikamentöse Therapie existiert aktuell noch nicht, sodass Betroffene symptomatisch behandelt werden. 2024 existierten bundesweit nur sehr wenige spezialisierte ME/CFS-Ambulanzen. Viele Patienten sind dauerhaft arbeitsunfähig oder pflegebedürftig. Ihre medizinische Versorgung und soziale Absicherung ist häufig prekär.
Für die Erstanlaufstelle – die Hausarztpraxis – bedeutet das: Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist gefragt. Die Symptome betreffen oft mehrere Organsysteme gleichzeitig. Für Schwerstbetroffene oder Patienten mit komplexem Versorgungsbedarf wird eine Behandlung in Spezialambulanzen empfohlen.
Selbsthilfe und Unterstützung
Die AOK Baden-Württemberg unterstützt Betroffene mit dem Programm „Long COVID-Coach“ – ein Gemeinschaftsprojekt des Universitätsklinikums Heidelberg und des AOK-Bundesverbandes. Das Programm bietet einen Überblick über die Erkrankung, Therapiemöglichkeiten und Übungen zur Linderung von Beschwerden.
Doch auch die beste digitale Unterstützung kann nicht ersetzen, was fehlt: ein fundamentales Verständnis der Krankheitsmechanismen und darauf basierende, ursächliche Therapien. Die laufenden Forschungsprojekte machen Mut – doch bis wirksame Behandlungen flächendeckend verfügbar sind, werden noch Jahre vergehen. Jahre, in denen Hunderttausende Betroffene weiter auf Hilfe warten.
Ausblick
Die Forschung zu Long COVID steht erst am Anfang. Während weltweit Studien laufen, kristallisiert sich zunehmend heraus: Es handelt sich nicht um eine einheitliche Erkrankung, sondern um verschiedene Krankheitsbilder mit unterschiedlichen Mechanismen. Das bedeutet auch: Es wird nicht die eine Therapie geben, sondern personalisierte Behandlungsansätze, die auf die spezifischen Symptome und Ursachenmuster der einzelnen Patienten abgestimmt sind.
Obwohl die Pandemie seit April 2023 offiziell als überwunden gilt, zirkulierte SARS-CoV-2 auch 2024 in mehreren Infektionswellen. Ein Rückgang der Krankheitszahlen ist nicht absehbar – was die Dringlichkeit intensiver Forschungsbemühungen unterstreicht.
Info: Was ist Long COVID?
Als Long COVID bezeichnet man gesundheitliche Beschwerden, die länger als vier Wochen nach einer SARS-CoV-2-Infektion bestehen oder neu auftreten. Die drei Hauptsymptome sind:
- Krankhafte Erschöpfung (Fatigue)
- Atemnot
- Neurokognitive Störungen (Konzentrations-, Wortfindungs- und Gedächtnisprobleme)
Charakteristisch ist auch eine ausgeprägte Belastungsintoleranz: Bereits kleine körperliche oder geistige Anstrengungen können zu einer tagelangen Verschlechterung des Zustands führen. Mehr als 200 verschiedene Symptome wurden bisher dokumentiert.
Quellen
ME/CFS Research Foundation – Kostenbericht zu Long COVID und ME/CFS (Mai 2025)
Wichtigste Quelle für die aktuellen Zahlen zu Betroffenen (1,5 Millionen) und gesellschaftlichen Kosten (63,1 Milliarden Euro jährlich)
Robert Koch-Institut (RKI) – Informationsportal zu Long COVID
Offizielle wissenschaftliche Informationen zu Symptomen, Verlauf und aktuellen Forschungsprojekten
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg – reCOVer-Studie zu BC007 (August 2025)
Aktuelle Forschungsergebnisse zu vielversprechenden Therapieansätzen



