Oberndorf am Neckar: die Stadt der Präzision

Ein Porträt der Waffenstadt zwischen Tradition und Gegenwart

Ausblick auf Stadt Oberndorf am Neckar in Baden-Württemberg (Landkreis Rottweil). Adobe-Stock-Foto

Wer nach Oberndorf am Neckar kommt, betritt eine Stadt, deren Identität untrennbar mit einem Industriezweig verbunden ist: der Waffenproduktion. Seit über 200 Jahren werden hier Feuerwaffen gefertigt – erst in der Königlichen Gewehrfabrik, dann bei Mauser, heute bei Heckler & Koch und Rheinmetall. Diese Kontinuität hat die Stadt geprägt, wie kaum eine andere Branche eine deutsche Stadt geprägt hat.

Lage und Struktur

Oberndorf liegt im oberen Neckartal, rund 20 Kilometer nördlich von Rottweil. Die Kernstadt erstreckt sich auf einer Kalktuffterrasse etwa 40 Meter über dem Neckar, geschützt in einem Tal, das sich bis zu 200 Meter tief in die Muschelkalk-Keuper-Hochfläche eingegraben hat. Diese besondere Topografie zwischen Schwarzwald im Westen und dem Kleinen Heuberg im Osten bestimmt die Entwicklung bis heute.

Mit 14.164 Einwohnern (Stand 2020) auf 55,93 Quadratkilometern ist Oberndorf eine mittelgroße Stadt im Landkreis Rottweil. Zur Gesamtstadt gehören sieben Stadtteile: Aistaig, Altoberndorf, Beffendorf, Bochingen, Boll, Hochmössingen und die Kernstadt selbst. Diese wurden 1975 im Zuge der Gemeindereform eingegliedert und bilden bis heute eigenständige Ortschaften mit eigenen Ortschaftsräten.

Die Verkehrsanbindung ist ein Standortvorteil. Die Autobahn A81 verbindet Oberndorf mit Stuttgart im Norden und dem Bodensee im Süden – beide Ziele sind in 45 Minuten erreichbar. Die Gäubahn von Stuttgart nach Singen führt direkt durch die Stadt und bietet stündliche Verbindungen.

Geschichte einer Waffenstadt

Die erste urkundliche Erwähnung datiert auf das Jahr 782 in einer Schenkungsurkunde des Klosters St. Gallen. Die eigentliche Stadtgründung erfolgte um 1250 durch Herzog Ludwig von Teck. Das Stadtwappen mit den schwarz-goldenen Rauten – verliehen um 1281 – erinnert bis heute an die Herzöge von Teck, die bis 1363 hier herrschten.

Doch die prägende Zäsur kam am 31. Juli 1811. König Friedrich I. von Württemberg entschied, in dem fünf Jahre zuvor säkularisierten Augustinerkloster eine Gewehrfabrik einzurichten. Die Königlich Württembergische Gewehrfabrik stand unter Aufsicht des Kriegsministeriums und markierte den Beginn der Industrialisierung.

Das Mauser-Erbe

Die eigentliche Erfolgsgeschichte begann mit zwei Brüdern. Wilhelm Mauser, geboren 1834 in Oberndorf, trat als Lehrling in die Gewehrfabrik ein. 1852 folgte ihm sein Bruder Paul. Nach ihrer Ausbildung arbeiteten beide in der Waffenentwicklung. Ihr gemeinsam konstruiertes Hinterladergewehr ging ab 1867 in Serie.

1872 kauften die Brüder ein Grundstück in Oberndorf und errichteten ihre eigene Gewehrfabrik. Mit einem für das M/71 entwickelten Visier erwirtschafteten sie das Kapital für die Serienfertigung. Der Durchbruch kam mit Großaufträgen: fast 100.000 Gewehre für württembergische Truppen, 26.000 für China, 120.000 für Serbien. 1874 übernahmen sie die königliche Gewehrfabrik für 200.000 Gulden.

Der spektakulärste Erfolg folgte 1887: Ein Auftrag über 500.000 Repetiergewehre und 50.000 Kavallerie-Karabiner für das Osmanische Reich machte Mauser international bekannt. Die Beschäftigtenzahl stieg zeitweise auf 2.500 bei einer Stadtbevölkerung von knapp 4.000.

Das bekannteste Produkt wurde das 98er-Verschlusssystem. Das am 5. April 1898 von Kaiser Wilhelm II. eingeführte Gewehr 98 war bis 1935 Ordonnanzwaffe des deutschen Heeres. Als Karabiner 98k mit 15 Zentimeter kürzerem Lauf diente es bis 1945 als Standardgewehr der Wehrmacht.

Brüche und Neuanfänge

Der Friedensvertrag von 1918 traf die Mauserwerke existenziell. Das Verbot der Waffenproduktion zwang zur Umstellung. Mauser stieg in die Fertigung von Messwerkzeugen, Nähmaschinen und sogar Automobilen ein. Doch bereits 1925 erwirtschaftete die Waffenabteilung wieder 62 Prozent des Gesamtumsatzes.

Die NS-Zeit brachte einen Boom ohnegleichen. 1939 beschäftigte Mauser über 9.800 Menschen bei 8.250 Stadteinwohnern. Monatlich wurden etwa 70.000 Militärkarabiner produziert. Zeitweise arbeiteten mehr als 5.000 Zwangsarbeiter aus besetzten Ländern in der Kriegswaffenproduktion. Mahnmale wie das „Buch der Erinnerung“ des Rottweiler Künstlers Jürgen Knubben erinnern heute an dieses dunkle Kapitel.

Das Kriegsende 1945 bedeutete den totalen Zusammenbruch. Die Alliierten demontierten die Anlagen, von 9000 Arbeitsplätzen blieben nur 160. Erst mit der Gründung der Bundeswehr ab 1949 begann langsam der Wiederaufbau.

Heckler & Koch: Die neue Ära

Am 28. Dezember 1949 gründeten Edmund Heckler, Theodor Koch und Alex Seidel – alle drei ehemalige Mauser-Mitarbeiter – in Oberndorf die Heckler & Koch GmbH. Zunächst produzierten sie Teile für Nähmaschinen und Werkzeuge. Facharbeiter fanden sie unter den entlassenen Mauser-Beschäftigten.

Mit dem NATO-Beitritt 1955 und der Wiederbewaffnung eröffneten sich neue Perspektiven. Das G3-Gewehr wurde zum Exportschlager: Etwa sieben Millionen Stück wurden bis 2012 hergestellt, rund drei Millionen sind noch im Umlauf. Nach der Kalaschnikow und dem amerikanischen M16 ist es damit die am dritthäufigsten produzierte Waffe weltweit.

Heute ist Heckler & Koch mit rund 1350 Beschäftigten, davon etwa 910 in Oberndorf, der bedeutendste deutsche Hersteller von Handfeuerwaffen. Das Produktprogramm umfasst Pistolen, Sturmgewehre, Maschinengewehre und Granatwerfer. Die Firma beliefert die Armeen der meisten NATO-Staaten und zahlreiche Polizeibehörden weltweit.

Die wirtschaftliche Entwicklung ist beeindruckend. In den ersten neun Monaten 2025 verzeichnete das Unternehmen einen Auftragseingang von 460,9 Millionen Euro. Der Umsatz stieg auf 279,1 Millionen Euro, das operative Ergebnis auf 52,6 Millionen Euro. Der Aufsichtsrat genehmigte ein Investitionsprogramm von 85 Millionen Euro für den Standort Oberndorf.

Parallel produziert die Rheinmetall Waffe Munition GmbH – Nachfolgerin der Mauserwerke – mit 260 Mitarbeitern automatische Maschinenkanonen im Mittelkaliber-Bereich. Die über 200-jährige Geschichte der Waffenproduktion wird hier fortgeschrieben.

Wirtschaft jenseits der Waffen

Die Dominanz der Waffenproduktion prägt die Wirtschaftsstruktur. 2018 arbeiteten von 7.023 Beschäftigten 3958 (56,4 Prozent) im produzierenden Gewerbe, 859 (12,2 Prozent) in Handel, Verkehr und Gastgewerbe und 2.192 (31,2 Prozent) in sonstigen Dienstleistungen.

Diese einseitige Ausrichtung macht die Stadt verletzlich. Als in den 1970er Jahren noch 85 Prozent der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe lagen, musste Oberndorf dem Strukturwandel stärker Tribut zollen als andere Kommunen. Die Diversifizierung schreitet voran, bleibt aber eine Herausforderung.

Positiv entwickelt sich die Finanzlage. Der Schuldenstand lag 2009 bei 495 Euro je Einwohner und damit deutlich unter dem Landesdurchschnitt von 883 Euro. Bauland war mit 37 Euro pro Quadratmeter (2006–2008) um 139 Euro günstiger als im Landesdurchschnitt.

Demografische Herausforderungen

Die Bevölkerungsentwicklung zeigt nach unten. Zwischen 2000 und 2010 nahm die Einwohnerzahl um 1,8 Prozent ab – deutlich stärker als der Kreisdurchschnitt (minus 1,1 Prozent) und entgegen dem Landestrend (plus 2,2 Prozent). Das Durchschnittsalter von 43,4 Jahren liegt leicht über dem Landesdurchschnitt. Der Ausländeranteil betrug 2010 gut 9 Prozent.

Kulturelles Erbe

Das Museum im Schwedenbau dokumentiert die Stadt- und Waffengeschichte. Die Dauerausstellung reicht von archäologischen Funden aus Jungsteinzeit und Bronzezeit über die mittelalterliche Stadtgeschichte bis zur Industrialisierung. Das Waffenmuseum – zurückgehend auf die 1938 eingerichtete Sammlung der Mauserwerke – zeigt die Entwicklung der Waffenfertigung von 1812 bis heute.

Die schwäbisch-alemannische Fastnacht wird auch in Oberndorf gepflegt und verbindet die Stadt mit der regionalen Tradition. Sakrale Bauwerke wie die Kirche des ehemaligen Augustinerklosters erinnern an die vorreformatorische Vergangenheit.

Ambivalenz als Identität

Oberndorf ist eine Stadt der Ambivalenzen. Die Waffenproduktion sichert Arbeitsplätze und Wohlstand, wirft aber ethische Fragen auf. Immer wieder gab es Proteste gegen die Waffenherstellung – von Friedensbewegungen bis zu Kunstaktionen wie dem Vorschlag des Zentrums für politische Schönheit 2012, einen Sarkophag nach dem Vorbild von Tschernobyl über dem H&K-Werk zu errichten.

Die Stadt lebt mit diesem Spannungsfeld. Die Präzisionstradition, die mit der Waffenproduktion entstand, prägt die Identität. Gleichzeitig sucht Oberndorf nach Wegen, die wirtschaftliche Basis zu diversifizieren, ohne die historisch gewachsene Kompetenz aufzugeben.

Oberndorf am Neckar bleibt eine Stadt, deren Geschichte von Kontinuität und Brüchen erzählt. Von der Königlichen Gewehrfabrik über die Mauser-Ära bis zu Heckler & Koch zieht sich eine Linie durch mehr als zwei Jahrhunderte. Diese Kontinuität ist Bürde und Chance zugleich.


Oberndorf am Neckar auf einen Blick

  • Erste urkundliche Erwähnung: 782
  • Stadtgründung: um 1250 durch Herzog Ludwig von Teck
  • Einwohner: 14.164 (Stand 2020)
  • Fläche: 55,93 km²
  • Bevölkerungsdichte: 257 Einwohner/km²
  • Stadtteile: 7 (Aistaig, Altoberndorf, Beffendorf, Bochingen, Boll, Hochmössingen, Kernstadt)
  • Lage: Oberes Neckartal, zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb
  • Höhe: 450–700 m ü. NHN
  • Verkehr: A81, Gäubahn Stuttgart–Singen
  • Wirtschaft: stark geprägt durch Waffenproduktion (56,4 % im produzierenden Gewerbe)
  • Größte Arbeitgeber: Heckler & Koch (ca. 910 Beschäftigte am Standort), Rheinmetall (260 Beschäftigte)
  • Besonderheit: über 200 Jahre kontinuierliche Waffenproduktion seit 1811
    Abonnieren
    Benachrichtigen bei
    guest
    0 Kommentare
    Neueste
    Älteste Meistbewertet
    Inline-Feedbacks
    Alle Kommentare anzeigen
    0
    Ihre Meinung würde uns sehr interessieren. Bitte kommentieren Sie.x