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Fragen an Oberbürgermeister Dr. Christian Ruf

Gericht stoppt Verkehrsversuch in Hessen – Rottweil macht weiter, ist aber auf der Hut

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„Nach juristischen Niederlagen: Stadt Gießen gibt großangelegten Verkehrsversuch auf“, titelte die FAZ Mitte September. Und „Verwaltungsgerichtshof bestätigt: Gießener Verkehrsversuch ist rechtswidrig“, meldete die Hessenschau Ende August. Schlagzeilen, die schon etwas in die Tage gekommen sind, die in Rottweil aber gerade die Runde machen.

Denn in Rottweil halten Stadtverwaltung und Gemeinderatsmehrheit anscheinend an etwas fest, das anderswo krachend gescheitert ist. Und das unter – jedenfalls für den Laien – gleichen Voraussetzungen. Wir haben Oberbürgermeister Dr. Christian Ruf gefragt, wie er den Fall in Gießen einschätzt, von dem er durch die NRWZ erfahren hat. Er, selbst ehemaliger Rechtsanwalt, hat sich mit Juristen beraten. Seine Antwort: Die Erfahrungen aus Gießen werden in Rottweil Berücksichtigung finden.

(Rottweil / Gießen). Entscheidende Vorbemerkung: Rottweil liegt in einem anderen Bundesland als Gießen. Baden-Württemberg hier, Hessen dort. Das ist insofern mitentscheidend, weil die beiden Gerichte, die den Verkehrsversuch in Gießen gestoppt haben, hierzulande nicht zuständig sind. Und jeder, der schon einmal „mit einem bombensicheren Fall“ vor ein Gericht getreten ist, weiß, dass diese völlig eigensinnig urteilen können.

Auch konnte der Gießener Verkehrsversuch nur krachend scheitern, weil jemand juristisch dagegen vorgegangen ist. Wo kein Kläger, da kein Richter, heißt es doch so schön. In Rottweil sagt OB Ruf: „Nach unserem Kenntnisstand sind keine Klagen, Anträge oder Widersprüche anhängig. Auch sind uns solche nicht angekündigt.“

Und: In Gießen gab es im Vorfeld des Verkehrsversuchs offenbar Bedenken von Behörden. Beides ist nach Informationen der NRWZ in Rottweil nicht der Fall.

Nun, so viel zu den Unterschieden, kommen wir zu den Gemeinsamkeiten: In der Universitätsstadt Gießen hat die Stadtverordnetenversammlung die Verwaltung im März 2021 damit beauftragt, „Fahrradstraßen auf dem inneren Anlagenring sowie zwei Fahrradstraßen-Achsen durch die Innenstadt“ zu schaffen. Begründung: „Der Radverkehr ist die dominierende Verkehrsart auf den genannten Strecken, beziehungsweise ist es zu erwarten, dass dies alsbald der Fall sein wird (z. B. durch Bündelung parallel verlaufender Achsen nach dem Umbau, sowie den Plänen der Stadt Gießen zur Klimaneutralität).“

Die damalige Oberbürgermeisterin Dietlinde Grabe-Bolz dazu: „… es geht nicht um kontra Auto und pro Fahrrad. Sondern es geht um die Ermöglichung der Mobilitätsvielfalt, der gerechten Aufteilung des Verkehrsraums, der Emissionsreduzierung …“

In der Kleinstadt Rottweil lief das fast identisch, hier geht es vorrangig um Verkehrsberuhigung: Einstimmig hat der Gemeinderat am 16. November 2016 die Verwaltung damit beauftragt, Möglichkeiten für die Verkehrsberuhigung der historischen Innenstadt zu entwickeln. Die Stadtverwaltung schlägt in einer Bürgerinformation am 7. März 2023 einen Ringverkehr vor. Mit großer Mehrheit hat der Gemeinderat dazu am 15. März 2023 beschlossen, diese Konzeption zunächst in einem Verkehrsversuch zu testen, bevor eine dauerhafte Umsetzung in Betracht kommt.

„Lassen Sie uns nun auch gemeinsam den Verkehrsversuch starten: im Dialog und mit Mut“, wird Oberbürgermeister Dr. Christian Ruf nach der Bürgerversammlung in Rottweil zitiert. Um die Innenstadt und den Friedrichsplatz attraktiver zu gestalten, sei es notwendig, die Verkehrsströme anders zu lenken. Mit dem Verkehrsversuch wolle die Stadt Probleme lösen, die seit vielen Jahren in der Bürgerschaft diskutiert werden: So sei es ein großer Wunsch vieler, den Verkehr auf dem Friedrichsplatz und der Hochbrücktorstraße zu reduzieren und den Friedrichsplatz langfristig zu einem Stadtplatz mit Außengastronomie samt Sitz- und Spielflächen umzugestalten. Auch mehr Raum und Sicherheit für Fußgänger und Radfahrer auf dem Friedrichsplatz und in der Hochbrücktorstraße werde vielfach gefordert.

Klar: In beiden Städten, ob 80.000 oder gut 24.000 Einwohnerinnen und Einwohner, geht es darum, den Fahrradfahrern mehr Raum zu bieten. In Gießen gab es eigene Spuren für Busse und Fahrräder, den Rottweiler Friedrichsplatz dürfen Radfahrer und -fahrerinnen vom Nägelesgraben aus befahren, Autofahrer nicht. In der Marxstraße in Rottweil entfiel eine Fahrspur für Autos, stattdessen wurden ein spezieller Radfahrstreifen und Aufstellflächen vor der Ampel für Radfahrer eingerichtet. Die Autos stauten sich derweil in Verkehrs-Spitzenzeiten. Und, was Automobilisten die Zornesröte ins Gesicht treibt: Während sie mit Tempo 40, 30 und 20 ausgebremst werden, huschen Radfahrer anscheinend unbekümmert und ungebremst an ihnen vorbei. Auch bei Rot, auch entgegen der Einbahnstraßen-Fahrtrichtung.

Vieles von dem, was Rottweil ausprobiert hat, klappte nicht. Beziehungsweise war nicht erfolgreich. Also wurden grob geschätzt vier Fünftel des Rottweiler Verkehrsversuchs auf dessen Ende am 15. Oktober hin kassiert. Aber eben nicht der ganze Versuch. Der Einbahnverkehr am Friedrichsplatz für Autos, nicht jedoch für Radfahrer, der soll weiterlaufen bis ins nächste Jahr. Hat der Gemeinderat bekanntlich nach ausgiebiger Diskussion mehrheitlich beschlossen.

Aber wird Rottweil damit nicht endgültig zu Gießen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir ein wenig ins Detail gehen.

Die Stadt Gießen beabsichtigte die Verkehrsführung auf einem dortigen Ring um die Innenstadt in mehreren Abschnitten umfassend zu ändern, und vor allem eine zweispurige Fahrradstraße einzurichten. Dafür traf die Stadt drei verkehrsrechtliche Anordnungen, drei Straßen betreffend. Gegen diese verkehrsrechtlichen Anordnungen haben zwei Anwohner vor dem Verwaltungsgericht Gießen einen erfolgreichen Eilantrag gestellt. Die Stadt Gießen hat gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts wiederum Beschwerde erhoben – diese wurde dann vom Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen.

Der VGH Kassel bemängelte, dass die Anordnung eines Verkehrsversuchs die Feststellung einer Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs erfordere. Die Stadt Gießen habe weder „die erforderliche Gefahr noch derartige besondere Umstände plausibel dargelegt“, hieß es. 

Oha. Schlägt diese Begründung des hessischen Verwaltungsgerichtshofs auch in Rottweil durch? Also rein inhaltlich, dass das Gericht nicht zuständig ist, ist der NRWZ klar. Oder anders gefragt: Könnte diese Argumentation auch in Rottweil greifen? Und wenn nein, warum nicht?

Oberbürgermeister Dr. Christian Ruf nimmt sich etwas Zeit für die Beantwortung dieser und weiterer Fragen. Er schließt sich nach eigenen Worten auch mit einer Rechtsanwaltskanzlei kurz. Ob das in zwei lapidaren Mails erledigt war oder ob die Telefondrähte glühten, ist der NRWZ nicht bekannt. Jedenfalls gibt sich Ruf anschließend weiterhin entschlossen und zuversichtlich: „Der Beschluss des VGH Kassel bewegt sich im bekannten Maßstab der Straßenverkehrsordnung für Verkehrsversuche, den bereits andere Gerichte in der Vergangenheit in gleicher Weise herausgearbeitet haben“, so der Rottweiler OB. Dieser Maßstab sei bei der Erstellung der Verkehrsrechtlichen Anordnungen für den Verkehrsversuch in Rottweil berücksichtigt worden. „Dies gilt sowohl für die derzeitige Verkehrsrechtliche Anordnung mit Gültigkeit vom 1. Juli als auch für die ab dem 16. Oktober gültige“, sagt Ruf. Die verschiedenen Gerichtsentscheidungen würden darüber hinaus in ihrer Begründung immer Einzelfälle bewerten, die eine Übertragung auf andere Verkehrsversuche nur sehr eingeschränkt ermögliche.

Im Prinzip sagt er hier zwei Dinge: Die Gießener scheinen etwas stümperhaft vorgegangen zu sein und vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.

Für die mutmaßliche Stümperei gibt es einen Hinweis, so hat die Stadt Gießen ja gerichtliche Kritik einstecken müssen. Sie habe sich mit den Stellungnahmen des Polizeipräsidiums Mittelhessen sowie des Regierungspräsidiums Gießen, die erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit des Versuchs geäußert hätten, nicht hinreichend auseinandergesetzt. Und vor allem habe die Stadt Befürchtungen, es drohten etwa durch die vorgesehene Mitbenutzung der Fahrradstraße durch Busse neue Gefahren für die Verkehrssicherheit, nicht ausgeräumt, sondern ignoriert. Auch seien Alternativen, etwa eine geänderte Radverkehrsführung durch die Innenstadt, nicht ausreichend geprüft worden.

In Gießen sind anscheinend Bedenken ignoriert worden. Wie war das in Rottweil? Gibt es hier eine Behörde, die erklären könnte: „Die Stadt Rottweil hat unsere Warnung in den Wind geschlagen“? Die Stadt habe sämtliche Maßnahmen mit den zuständigen Behörden vorher abgestimmt, antwortet Ruf. Zu diesem Zweck hätten mehrere Vor-Ort-Termine der Verkehrsschau-Kommission stattgefunden, der neben der städtischen Straßenverkehrsbehörde, dem Tiefbauamt und dem Mobilitätsbeauftragten auch die Polizei und – sofern auch Straßen des Kreises und des Landes betroffen sind – Vertreter des Landratsamtes angehören. „Alle Maßnahmen wurden einvernehmlich festgelegt“, erklärt der Rottweiler OB. „Darüber hinaus haben wir auch das Regierungspräsidium im Vorfeld über den Verkehrsversuch informiert, dieses hat keine weitere Beteiligung für notwendig erachtet und keine Einwände vorgebracht.“

Manch ein Stadtrat, manch eine Rätin könnte sich nun die Augen reiben und für die Gießener Geschichte interessieren. In der entscheidenden Abstimmung vergangene Woche war sie aber nicht Thema. Daher ist die Frage vielleicht interessant: Wusste OB Dr. Ruf vor der Abstimmung im Gemeinderat vergangenen Mittwoch von der Entscheidung des Hessischen VGH? „Im Vorfeld (des ursprünglichen Verkehrsversuchs) – also vor dem 1. Juli – hat die von uns mit der Erstellung der Verkehrsrechtlichen Anordnung beauftragte Kanzlei gerichtliche Entscheidungen mit Bezug auf Verkehrsversuche analysiert und bei der rechtlichen Würdigung mit einbezogen“, so Ruf.

Der Beschluss des VHG Kassel sei allerdings nach Beginn des Verkehrsversuchs in Rottweil am 29. August erfolgt „und wurde mir tatsächlich erst durch den Hinweis der NRWZ am Freitagabend bekannt“, erklärt der OB weiter. „Nach Rücksprache mit der Kanzlei enthält dieser jedoch keine rechtlich neuen Erkenntnisse, sondern orientiert sich wie oben geschildert an den bereits bekannten Maßstäben“, sagt der Rottweiler Stadtchef weiter. Dennoch werde die Kanzlei den Beschluss des VGH Kassel bei der Erstellung der neuen, ab dem 16. Oktober gültigen Verkehrsrechtlichen Anordnung wiederum „mit einbeziehen“.

Rottweil hält also am Vorhaben fest, den Verkehrsversuch in Teilen fortzuführen, wird sich aber auch gegen ein Scheitern à la Gießen abzusichern versuchen.

Das wird die Gegnerinnen und Gegner des Einbahnverkehrs am Friedrichsplatz, die nun etwa in der Marxstraße wohnen und nach eigenem Empfinden (die Stadt sieht das anders) erheblich Mehrverkehr vor der Haustür haben, nicht zufriedenstellen. In der Innenstadt aber gibt es auch Befürworter der aktuellen Anordnung. Und beide Seiten gehen nicht gerade zimperlich miteinander um.

Das ist auch in Gießen so, und das ist eine eingangs unerwähnt gebliebene Gemeinsamkeit: So wünscht sich der Gießener Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher laut der Gießener Allgemeinen „inhaltliche Diskussionen“. Dazu müsse man „ein gesellschaftliches Klima schaffen, das bestehende Grabenkämpfe überwindet“, zitiert das Blatt das Stadtoberhaupt. Der OB forderte einen Debattenstil, der respektvoll sei und unterschiedliche Haltungen zulasse.

Sein Amtskollege Ruf sieht das genauso. In Rottweil werden vereinzelt bereits Rufe nach seinem Rücktritt laut (wie in Gießen, dort haben sie den zuständigen Bürgermeister im Visier). Außerdem wollen sich manche die Namen derer Stadträtinnen und -räte merken, die für die Fortführung des Verkehrsversuchs gestimmt haben, um sie mit Nicht-Wiederwahl zu strafen. Ruf, dazu befragt: „Mir ist bewusst, dass der Ton auf Social Media bisweilen rau ist. Zielführender ist es aber, in der Sache zu diskutieren und die Argumente pro und kontra gegeneinander abzuwägen. Dies hat der Gemeinderat trotz des sehr emotionalen Themas getan – und das ganz unabhängig davon, wie das einzelne Ratsmitglied in der Sache zu dem Thema steht.“

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Peter Arnegger (gg)
Peter Arnegger (gg)https://www.nrwz.de
... ist seit gut 25 Jahren Journalist. Mehr über ihn hier.

6 Kommentare

  1. Eieieieieiei. Da fehlen einem fast die Worte.

    Ein weiteres Glanzstück vom in öffentlichem Recht promovierten Juristen Dr. Christian Ruf. Einfach mal wesentliche Fakten komplett übersehen und dann staatsmännisch auf seine Kollegen von der ebenfalls komplett kompetenten gut bezahlten Anwaltskanzlei schieben. Und dann brauchen die Profis ganze 4 Tage für eine Reaktion.

    Und ein echtes Glanzstück, ganz ohne Ironie, für Herrn Arnegger und seine Recherchetätigkeit.

    Es kann im Rückblick in wenigen Jahren über dieses Narrenstück nur eine Konsequenz geben: Es wird auch hier dann über den damaligen, ehemaligen OB berichtet.

    Die absurde Einbahnstraße muss umgehend weg.
    Rottweils guter Ruf ist hinüber.

    • Zum zeitlichen Verlauf: Die erste Anfrage von mir an Herrn Dr. Ruf erreichte ihn am Freitagabend per WhatsApp. Er reagierte mit dem Hinweis, dass er unterwegs sei und die Gießener Urteile inhaltlich nicht prüfen könne. Wir vertagten uns auf Montag.

      Montagmorgen habe ich dann mehrere Fragen vorgelegt und am Nachmittag die Info erhalten, dass man (auch wegen anderer Themen und Termine) bis Dienstag brauchen werde. Ich finde das völlig in Ordnung, zumal jetzt ausführliche Antworten vorliegen.

      • Ja, das ist sicher auch so. Aber wir sind uns beide glaube ich einig darin, dass ab Freitag Abend die Beteiligten in hellem Aufruhr waren und da viele Überstunden geschoben wurden in den Amtsstuben und Kanzleibüros. Da hat keiner gemütlich mal am Montag nachmittag angefangen zu überlegen.

        *zwinkersmiley*

  2. Entgegen der Ankündigung, dass an der JuHe nur in den Münsteroert eingefahren werden darf ging nun plötzlich beide Richtungen. Komisch, oder anders gesagt geschickt denn der OB muss so keinen Umweg fahren. Hat halt ein Gschmaeckle.

  3. Interessanter Artikel!

    @Herrn OB Ruf:
    Nach meinem Demokratieverständnis ist es für einen Wähler legitim, seine künftige Wahlentscheidung auch im Hinblick auf das jeweilige Abstimmungsverhalten zu konkreten Sachthemen zu treffen. Dies ist u.a. Merkmal gelebter Demokratie und hieran (wenn auch verhaltene) „Kritik“ zu üben scheint mir nicht angebracht, zumal mir die eine oder andere Kritik am Verkehrsversuch (u.a. weite Umwegfahrten im Kontext CO2-Bilanz, zugenommenes Verkehrsaufkommen auf den „Umleitungsstrecken“) durchaus sachlich und nachvollziehbar erscheint.

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