Lyrik-Star bedichtet Rottweiler Madonna

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Seit Jahrhunderten hat sie einen besonderen Platz im Herzen vieler: die Madonna von der Augenwende. Als sie wegen der Münster-Sanierung auf ihren alten Platz in der Predigerkirche zurückkehrte, entflammte eine solche Begeisterung, dass dort bald eine Kopie einzieht. Fasziniert war auch ein renommierter Lyriker. Seine Zeilen sind nun Teil einer Gedicht-Sammlung.

Es handelt sich um den 1971 in Hamburg geborenen Jan Wagner. Ihn kann man durchaus als einen Star der Szene bezeichnen, ist er doch medial präsent, hat immer wieder Poetik-Professuren inne und wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und dem Georg-Büchner-Preis (2017), der als prestigeträchtigster Literaturpreis im deutschen Sprachraum gilt.

Aber mehr noch: Wagners Poesie, die immer klar, zugänglich und anmutig auftritt, aber auch spielerische Register zieht, kommt bei einem breiteren Publikum an und schafft es auf Bestsellerlisten. Im eher exotischen Feld der Lyrik macht Jan Wagner zu einer Ausnahmeerscheinung.

2021 war er auch aufgrund dieses Erfolgs Gast bei den 37. deutsch-schweizer Autorentreffen in Rottweil. Wie alle Eingeladenen war auch Wagner dabei aufgefordert, Rottweil-Eindrücke in Text zu gießen und zum Abschluss des dreitägigen Programms der Öffentlichkeit zu präsentieren. Zugegeben, das ist ein kleiner kreativer Stresstest, der aber über die Jahre bereits neben einigem Banalem auch etliche brillante Beobachtungen hervorgebracht hat.

Bei diesem finalen Schaulaufen der Literaten präsentierte Jan Wagner ein Gedicht über die Rottweiler Madonna, der zugeschrieben wird, während der Belagerung Rottweils 1643 in höchster Not wundersam die Augen bewegt und das Schicksal der Stadt zum Besseren gewendet zu haben.

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Jan Wagner beim Autorentreffen 2021 in der Werkhalle auf der Hauser-Saline. Archivfoto: al

Seine Zeilen waren bereits in der vom Kulturamt herausgegebenen Anthologie der Abschlusstexte zu finden. Nun aber fanden sie auch Eingang in den neuesten, bei Hanser Berlin erschienen Band mit Gedichten Jan Wagners. Dort reihen sie sich ein in ein Panorama von 65 lyrischen Werken, in denen man selten konventionelle Endreime findet, die aber immer fein rhythmisiert sind und oft auf überraschenden Beobachtungen von Alltagsphänomenen beruhen.

So beschreibt der für seine Verse manchmal auch etwas belächelte Wagner beispielsweise Karotten als „unterirdische raketen“, die sich „immerzu fort von der sonne, dem erdmittelpunkt entgegen“ bewegen, den Apfel als „äquator von süße“ und Flamingos als jene, die „mit jedem hals ein fragezeichen an alles fügen“.

Das Gedicht zur Rottweiler Madonna sticht in diesem Kontext fast etwas heraus – zumindest bei der Themenwahl, nicht in seinem Zugang und der sprachlichen Gestalt. In acht mal vier Zeilen nähert sich der Poet der um 1520 geschaffenen spätgotischen Skulptur, auf die sich schon so viele Augen gerichtet haben.

Wagner jedoch tritt völlig unvoreingenommen an die Lindenholz-Figur heran. Er referiert auch nicht, warum die Madonna als wundertätig gilt. Vielmehr lässt er sich auf jedwede Eindrücke ein – und seinen Assoziationen freien Lauf. So attestiert er der Madonna „backfischrouge“ auf den Wangen und findet, ihr Strahlenkranz sei „zum pfauenrad aufgeblüht“.

Wagner bleibt im Tonfall bemerkenswert behutsam und respektvoll. Ganz abzuperlen scheint der auf Wunder hoffende sinnenfreudig-süddeutsche Katholizismus von dem kühlen Hanseaten nicht. Zwar konstatiert er knapp, dass bei der wundersamen Muttergottes seit 1643 „kein wimpernzucken“ mehr festzustellen gewesen sei. Zugleich fühlt er sich vom Blick der Madonna beim Gang durchs Kirchenschiff jedoch begleitet, spricht gar von einem „pegel der gnade“, der langsam steige. Aber ehe es allzu ehrfürchtig wird, wechselt er abschließend abrupt das Register und mutmaßt über Holzwurmlöcher in der Brust der Madonna.

Insgesamt gelingt es dem Lyrik-Star, überraschende, neue Blicke auf die oft gesehene Madonna von der Augenwende zu eröffnen. Dass er sein Gedicht über dieses Rottweiler Glaubensobjekt nicht als rein regional interessanten Text einordnet und es nun auch einem breiteren Publikum zugänglich macht, ist zwar noch kein Wunder, auf jeden Fall jedoch eine schöne Sache.

Info: Jan Wagners aktueller Gedichtband „Steine & Erden“ (112 Seiten, ISBN 978-3-446-27730-4) ist bei Hanser Berlin erschienen und kostet 22 Euro.

Das interessiert diese Woche



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Seit Jahrhunderten hat sie einen besonderen Platz im Herzen vieler: die Madonna von der Augenwende. Als sie wegen der Münster-Sanierung auf ihren alten Platz in der Predigerkirche zurückkehrte, entflammte eine solche Begeisterung, dass dort bald eine Kopie einzieht. Fasziniert war auch ein renommierter Lyriker. Seine Zeilen sind nun Teil einer Gedicht-Sammlung.

Es handelt sich um den 1971 in Hamburg geborenen Jan Wagner. Ihn kann man durchaus als einen Star der Szene bezeichnen, ist er doch medial präsent, hat immer wieder Poetik-Professuren inne und wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und dem Georg-Büchner-Preis (2017), der als prestigeträchtigster Literaturpreis im deutschen Sprachraum gilt.

Aber mehr noch: Wagners Poesie, die immer klar, zugänglich und anmutig auftritt, aber auch spielerische Register zieht, kommt bei einem breiteren Publikum an und schafft es auf Bestsellerlisten. Im eher exotischen Feld der Lyrik macht Jan Wagner zu einer Ausnahmeerscheinung.

2021 war er auch aufgrund dieses Erfolgs Gast bei den 37. deutsch-schweizer Autorentreffen in Rottweil. Wie alle Eingeladenen war auch Wagner dabei aufgefordert, Rottweil-Eindrücke in Text zu gießen und zum Abschluss des dreitägigen Programms der Öffentlichkeit zu präsentieren. Zugegeben, das ist ein kleiner kreativer Stresstest, der aber über die Jahre bereits neben einigem Banalem auch etliche brillante Beobachtungen hervorgebracht hat.

Bei diesem finalen Schaulaufen der Literaten präsentierte Jan Wagner ein Gedicht über die Rottweiler Madonna, der zugeschrieben wird, während der Belagerung Rottweils 1643 in höchster Not wundersam die Augen bewegt und das Schicksal der Stadt zum Besseren gewendet zu haben.

dt ch autorentreffen 2021 03a jan wagner a. linsenmann
Jan Wagner beim Autorentreffen 2021 in der Werkhalle auf der Hauser-Saline. Archivfoto: al

Seine Zeilen waren bereits in der vom Kulturamt herausgegebenen Anthologie der Abschlusstexte zu finden. Nun aber fanden sie auch Eingang in den neuesten, bei Hanser Berlin erschienen Band mit Gedichten Jan Wagners. Dort reihen sie sich ein in ein Panorama von 65 lyrischen Werken, in denen man selten konventionelle Endreime findet, die aber immer fein rhythmisiert sind und oft auf überraschenden Beobachtungen von Alltagsphänomenen beruhen.

So beschreibt der für seine Verse manchmal auch etwas belächelte Wagner beispielsweise Karotten als „unterirdische raketen“, die sich „immerzu fort von der sonne, dem erdmittelpunkt entgegen“ bewegen, den Apfel als „äquator von süße“ und Flamingos als jene, die „mit jedem hals ein fragezeichen an alles fügen“.

Das Gedicht zur Rottweiler Madonna sticht in diesem Kontext fast etwas heraus – zumindest bei der Themenwahl, nicht in seinem Zugang und der sprachlichen Gestalt. In acht mal vier Zeilen nähert sich der Poet der um 1520 geschaffenen spätgotischen Skulptur, auf die sich schon so viele Augen gerichtet haben.

Wagner jedoch tritt völlig unvoreingenommen an die Lindenholz-Figur heran. Er referiert auch nicht, warum die Madonna als wundertätig gilt. Vielmehr lässt er sich auf jedwede Eindrücke ein – und seinen Assoziationen freien Lauf. So attestiert er der Madonna „backfischrouge“ auf den Wangen und findet, ihr Strahlenkranz sei „zum pfauenrad aufgeblüht“.

Wagner bleibt im Tonfall bemerkenswert behutsam und respektvoll. Ganz abzuperlen scheint der auf Wunder hoffende sinnenfreudig-süddeutsche Katholizismus von dem kühlen Hanseaten nicht. Zwar konstatiert er knapp, dass bei der wundersamen Muttergottes seit 1643 „kein wimpernzucken“ mehr festzustellen gewesen sei. Zugleich fühlt er sich vom Blick der Madonna beim Gang durchs Kirchenschiff jedoch begleitet, spricht gar von einem „pegel der gnade“, der langsam steige. Aber ehe es allzu ehrfürchtig wird, wechselt er abschließend abrupt das Register und mutmaßt über Holzwurmlöcher in der Brust der Madonna.

Insgesamt gelingt es dem Lyrik-Star, überraschende, neue Blicke auf die oft gesehene Madonna von der Augenwende zu eröffnen. Dass er sein Gedicht über dieses Rottweiler Glaubensobjekt nicht als rein regional interessanten Text einordnet und es nun auch einem breiteren Publikum zugänglich macht, ist zwar noch kein Wunder, auf jeden Fall jedoch eine schöne Sache.

Info: Jan Wagners aktueller Gedichtband „Steine & Erden“ (112 Seiten, ISBN 978-3-446-27730-4) ist bei Hanser Berlin erschienen und kostet 22 Euro.

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