Bürgerprozess Irslingen: „Glänzendes Beispiel“ für den Umgang mit Alterung

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Irslingen bekommt hohen Besuch: Sozial- und Integrationsminister Manfred Lucha ist am 29. Januar mit dabei, wenn die Ergebnisse des Bürgerprozesses „Irslingen hat Zukunft – gut leben und wohnen im Alter“ vorgestellt werden. Die Visite ist auch eine Anerkennung dafür, dass der Ort seit 2017 mit viel Energie gute Antworten auf die Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft sucht. Dafür wurde an „Bürgertischen“ intensiv diskutiert, was in den Bereichen Begegnung, Infrastruktur, Wohnen und soziale Netzwerke im Alter angepackt werden soll. 2019 gab es auch eine Fragebogen-Aktion.

Begleitet hat das Projekt Peter Beck, Fachberater für Gemeinde- und Bürgerbeteiligungsprozesse für Senioren der Firma Vinzenz Service. Im Gespräch mit der NRWZ erläutert er, was man von den Irslingern lernen kann.

Herr Beck, die Irslinger haben sich 2017 aufgemacht, um im Rahmen der Strategie „Quartier 2020 – Gemeinsam.Gestalten“ ein Bürgerkonzept zu erarbeiten und sich auf Veränderungen durch den demografischen Wandel einzustellen – bräuchte so etwas nicht im Grunde jede Stadt, jede Gemeinde?

Peter Beck: Um die Themen Alter, älter werdende Gesellschaft, Wandel von Familien, aber auch das Miteinander der Generationen gut anzugehen, ist es notwendig, dass sich noch mehr Städte und Gemeinden auf den Weg machen. Da gibt es großen Handlungsbedarf.

Was kommt denn auf Ortschaften wie Irslingen zu?

Der erste Bereich ist die Altersentwicklungen: Die Menschen werden älter, sie erleben einen längeren Lebensabschnitt im Alter. Etwa 90 Prozent bleiben dabei mobil, aber ein Teil muss eben auch mit umsorgt oder versorgt werden. Der zweite Bereich betrifft die sozialen Veränderungen in unserer Gesellschaft: Es gibt viele Familien, bei denen die Kinder weggezogen sind und viele ältere Bürger, die alleine leben. Eines der Kernthemen des Alters ist die Vereinsamung.

Das Wichtige auch in Irslingen, als kleine, hoch aktive Gemeinde mit sehr regen Vereinen, Kirchengemeinden, Gruppen und dem Ortschaftsrat ist, Treffen und Begegnung zu aktivieren, Tagesangebote zu schaffen, Selbsthilfe anzuregen, barrierefreies Wohnen zu ermöglichen, so dass ältere Menschen im Ort verbleiben können. Es braucht ein neues Verständnis des Miteinanders der Generationen und ein gut funktionierendes Netzwerk, da sich ja viele Sorgethemen aus der Familie herausverlagern.

An welchen Stellschrauben muss man drehen, um sich auf den Wandel vorzubereiten – gibt es da einen Königsweg?

Die Wege, die Kommunen, Kirchen, Initiativen oder Genossenschaften gehen, sind sehr unterschiedlich. Es gibt aber ein paar Faktoren, die zu guten Ergebnissen führen können. Das ist zum einen, dass Bürgerinnen und Bürger selbst nach ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und Visionen ihr Konzept aktiv mitgestalten. „Schlüssel“ zum Erfolg sind Identifikation erreichen und Kreativität wecken. Dies führt zu konkreten Unterstützungen des Zuhauselebens, der Mobilität und Infrastruktur, einem Begegnungsort sowie auch sozusagen einem „Plan B“ für neue Wohnformen.

Zum anderen gelingt der Wandel dann, wenn die Interessen und Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger einbezogen und gestärkt werden. Da schlummert noch viel Potenzial, das es zu wecken gilt. Der Prozess braucht motivierende fachliche Unterstützung, ganz alleine geht es nur selten. Ehrenamt will auch gut gepflegt sein!

Sie betonen die ideelle Seite, aber kommt es nicht letztlich vor allem darauf an, viel Geld zu aktivieren?

Das sehe ich nicht so. In der ersten Phase geht es darum, die Bürgerbeteiligung zu aktivieren – dabei steht auch das Land Pate. Im zweiten Schritt ist das Ziel, die Dienste und Netzwerke von der ambulanten Pflege und der Tagespflege bis zur Nachbarschaftshilfe auszubauen und die häusliche Pflege zu stärken, damit Menschen zuhause bleiben können, auch im Pflegefall – gut unterstützt und in verschiedenen Wohnvarianten.

Wenn es zuhause nicht mehr geht, braucht es den „Plan B“, zum Beispiel ambulant betreute Wohngemeinschaft. Hier ist auch Unterstützung durch das Land gefordert, etwa wenn ein Begegnungsort geschaffen werden muss. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Bürgerinnen und Bürger gerne in ihr Konzept und dessen Umsetzung investieren.

Diese Investition hat viele Gesichter: etwa eine Bürgergemeinschaft, Ehrenamt, Spenden, Kauf einer Eigentumswohnung mit Barrierefreiheit oder Anteile-Modelle. Wenn es gar nicht anders geht, kann auch ein Investor von außen aktiv unterstützen. Das ist mittlerweile eher der seltene Fall. Wir kennen mit unserem Beraterteam kaum noch Gemeinden, wo die Konzeptumsetzung an der Investition scheitert.

Irslingen hat sich da auf einen langen Weg eingelassen, mit Bürgertischen und einer großen Fragebogen-Aktion: Welche Ergebnisse haben Sie als erfahrenen Begleiter solcher Prozesse dabei am meisten überrascht?

Irslingen und seine aktiven Bürgerinnen und Bürger haben sich sehr bewusst für einen intensiveren Veränderungsprozess mit Situationserhebung, Themen der Zeit und Zukunftsvisionen und deren Umsetzung entschieden. Überrascht hat mich ehrlich gesagt, dass diese kleine, überschaubare Ortschaft mit einem enormen Engagement so mutig in den Prozess eingestiegen ist und ihn durchgezogen hat. Es waren sehr viele beteiligt, die sich mit großen Ideen aber auch Bereitschaft zum Anpacken einbringen. Das ist schon bemerkenswert.

Was mich zudem überrascht hat ist, dass die Menschen vor Ort ein starkes Miteinander pflegen – im Backhaus, in Aktionen, in der Kirche, in der Traditionspflege und in Vereinen. Das habe ich andernorts selten so stark erlebt.

Dieses Miteinander ist eine zentrale Vor­aussetzung, um einer Ortschaft in dieser Größe eine Chance für die Zukunft zu geben. Nicht zuletzt gibt es eine Reihe hoch Engagierter, die mir Mut machen. Sie treiben die Dinge voran und bringen sich in einzelnen Feldern besonders ein. Diese drei Faktoren zusammen bieten eine besonders gute Basis für die Zukunft.

Wie wirkt sich so ein Prozess auf die Dorfgemeinschaft aus?

Die Leute haben vor allem an den Bürgertischen intensiv über die Ortschaft nachgedacht, haben Handlungskonzepte und Maßnahmen entwickelt. Das ist die Sachebene. Dabei hat sich aber ein spannender Nebeneffekt eingestellt, den ich immer wieder beobachte: Man kommt miteinander ins Gespräch. Viele Leute kennen sich zwar manchmal oberflächlich, aber es entsteht in diesem Prozess ein intensiver Austausch, gerade zwischen Jung und Alt, wie er sonst nicht zustande kommen würde. Und die Leute sehen, dass diese gemeinsame Arbeit auch Spaß macht.

Das ist ganz wichtig: Man wächst an der Aufgabe und in der Gemeinschaft. Es ist schon enorm, was man da alles sehen kann. Wenn ich heute als Auswärtiger aus der Ravensburger Ecke nach Irslingen komme, werde ich immer freundlich angesprochen, als gehörte ich schon immer dazu. Das ist schön und man fühlt sich gleich inte­griert – was will man mehr, nichts bleibt im Alter wirklich, als die engsten Beziehungen.

Das Ganze ist ja auch gelebte Partizipation: jede und jeder wird gefragt, kann sich äußern und einbringen – bietet das ein Modell für die Vitalisierung unserer strapazierten demokratischen Kultur?

Ja, unbedingt! Es geht im Grunde um unsere Werte und Einstellungen, um Teilhabe in allen Bereichen, um das Miteinander der Generationen. Die Beteiligung in Irslingen ist gelebte Demokratie. Das war toll, auch wenn nicht alle mit an Bord waren.

Natürlich gibt es den einen oder anderen, dem die Zeit fehlt, sich einzubringen und mancher wird vielleicht skeptisch noch in der Ecke sitzen oder sagen: Das wird nichts. Mit den ausschließlichen Kritikern und Schimpfern werden keine Gemeinschaft von Jung und Alt und eine lebenswerte Zukunft entstehen.

So ist das aber überall. Die Umsetzung der Projekte werden jedoch dazu führen, dass es immer mehr Anhänger gibt, weil sie sehen: Es geht um sie selber, ihre Nachbarn, um die Menschen in der Ortschaft. Das ist eine „win-win-Situation“, von der alle profitieren und in der keiner ausgegrenzt wird, egal, ob er alt, pflegebedürftig oder dement ist oder ganz jung und mobil. Alle sind beteiligt, auch Bürger, Organisationen, sozial Tätige, Dienstleister, Handwerker. Es braucht einen starken Schulterschluss – und das ist, wie ich meine, auch eine besonders attraktive Chance.

Wie wird sich Irslingen Ihrer Einschätzung nach in den nächsten Jahren verändern?

Ich bin kein Prophet. Aber ich glaube, es wird sich ein starker Wandel vollziehen in Richtung einer, wie wir in der Altersforschung und Altersentwicklung sagen, „umsorgenden Gemeinschaft“. Es wird den Irslingern zu einem guten Teil gelingen, ihre Ideen und Visionen umsetzen – davon bin ich überzeugt. Das erstreckt sich auf viele Bereiche, etwa Begegnung, Tagesangebote in der Pflege, die Unterstützung pflegender Angehöriger, aber auch die Entwicklung neuer Wohnformen – die sind besonders spannend und interessant, denn sie bieten wirklich Perspektive.

Was kann der Irslinger im Alter mehr wollen, als mit guter Einbindung und Lebensqualität in seiner Umgebung bleiben zu können? Aus meiner Sicht wäre das die „Krönung“ von Bürgerkonzeption und Teilhabe.

Wie können solche neuen Wohnformen aussehen – können Sie da mal ein Beispiel nennen?

Das Förderprogramm „Quar­tiersimpulse“ der Allianz für Beteiligung in Baden-Württemberg ist bekannt für Innovationen und zivilgesellschaftliche Ansätze. In der Vielzahl der Wohnformen werden beispielsweise immer mehr „Mehrgenerationshäuser“ gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern konzipiert: Ein Wohnprojekt, in dem auch Menschen mit hohem Pflegebedarf oder an Demenz Erkrankte leben und wohnen können. Die Gestaltung verschiedener Wohnprojekte mit einem Mix an Wohnformen haben die Irslinger jetzt auf ihrer Zukunftsagenda.

Irslingen ist eine der klein­sten Orte im Land, die sich dieser Aufgabe so offensiv gestellt haben – was können andere Gemeinden denn von Irslingen lernen?

Von den Städten und Gemeinden, die meine Kollegen und ich begleiten, ist Irslingen in der Tat die kleinste Ortschaft. Es sind Städte mit bis zu 100.000 Einwohnern dabei, Irslingen zählt etwa 900. Man kann daraus lernen, dass die Größe einer Gemeinde, die Infrastruktur oder das Geld gar nicht die entscheidendsten Faktoren sind, um aktiv zu werden, sondern dass auch in einer kleinen Gemeinde das Miteinander Schubkraft für die Zukunft geben kann.

In dieser Hinsicht ist Irslingen für mich ein glänzendes Beispiel, was man mit Gemeinschaft erreichen und dem Ort eine lebbare Perspektive geben kann. Das ist wirklich vorbildhaft!

Die Fragen stellte unser Redakteur Andreas Linsenmann.

Info: Die Veranstaltung am 29. Januar in der Waidbachhalle beginnt um 18.30 Uhr.

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Irslingen bekommt hohen Besuch: Sozial- und Integrationsminister Manfred Lucha ist am 29. Januar mit dabei, wenn die Ergebnisse des Bürgerprozesses „Irslingen hat Zukunft – gut leben und wohnen im Alter“ vorgestellt werden. Die Visite ist auch eine Anerkennung dafür, dass der Ort seit 2017 mit viel Energie gute Antworten auf die Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft sucht. Dafür wurde an „Bürgertischen“ intensiv diskutiert, was in den Bereichen Begegnung, Infrastruktur, Wohnen und soziale Netzwerke im Alter angepackt werden soll. 2019 gab es auch eine Fragebogen-Aktion.

Begleitet hat das Projekt Peter Beck, Fachberater für Gemeinde- und Bürgerbeteiligungsprozesse für Senioren der Firma Vinzenz Service. Im Gespräch mit der NRWZ erläutert er, was man von den Irslingern lernen kann.

Herr Beck, die Irslinger haben sich 2017 aufgemacht, um im Rahmen der Strategie „Quartier 2020 – Gemeinsam.Gestalten“ ein Bürgerkonzept zu erarbeiten und sich auf Veränderungen durch den demografischen Wandel einzustellen – bräuchte so etwas nicht im Grunde jede Stadt, jede Gemeinde?

Peter Beck: Um die Themen Alter, älter werdende Gesellschaft, Wandel von Familien, aber auch das Miteinander der Generationen gut anzugehen, ist es notwendig, dass sich noch mehr Städte und Gemeinden auf den Weg machen. Da gibt es großen Handlungsbedarf.

Was kommt denn auf Ortschaften wie Irslingen zu?

Der erste Bereich ist die Altersentwicklungen: Die Menschen werden älter, sie erleben einen längeren Lebensabschnitt im Alter. Etwa 90 Prozent bleiben dabei mobil, aber ein Teil muss eben auch mit umsorgt oder versorgt werden. Der zweite Bereich betrifft die sozialen Veränderungen in unserer Gesellschaft: Es gibt viele Familien, bei denen die Kinder weggezogen sind und viele ältere Bürger, die alleine leben. Eines der Kernthemen des Alters ist die Vereinsamung.

Das Wichtige auch in Irslingen, als kleine, hoch aktive Gemeinde mit sehr regen Vereinen, Kirchengemeinden, Gruppen und dem Ortschaftsrat ist, Treffen und Begegnung zu aktivieren, Tagesangebote zu schaffen, Selbsthilfe anzuregen, barrierefreies Wohnen zu ermöglichen, so dass ältere Menschen im Ort verbleiben können. Es braucht ein neues Verständnis des Miteinanders der Generationen und ein gut funktionierendes Netzwerk, da sich ja viele Sorgethemen aus der Familie herausverlagern.

An welchen Stellschrauben muss man drehen, um sich auf den Wandel vorzubereiten – gibt es da einen Königsweg?

Die Wege, die Kommunen, Kirchen, Initiativen oder Genossenschaften gehen, sind sehr unterschiedlich. Es gibt aber ein paar Faktoren, die zu guten Ergebnissen führen können. Das ist zum einen, dass Bürgerinnen und Bürger selbst nach ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und Visionen ihr Konzept aktiv mitgestalten. „Schlüssel“ zum Erfolg sind Identifikation erreichen und Kreativität wecken. Dies führt zu konkreten Unterstützungen des Zuhauselebens, der Mobilität und Infrastruktur, einem Begegnungsort sowie auch sozusagen einem „Plan B“ für neue Wohnformen.

Zum anderen gelingt der Wandel dann, wenn die Interessen und Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger einbezogen und gestärkt werden. Da schlummert noch viel Potenzial, das es zu wecken gilt. Der Prozess braucht motivierende fachliche Unterstützung, ganz alleine geht es nur selten. Ehrenamt will auch gut gepflegt sein!

Sie betonen die ideelle Seite, aber kommt es nicht letztlich vor allem darauf an, viel Geld zu aktivieren?

Das sehe ich nicht so. In der ersten Phase geht es darum, die Bürgerbeteiligung zu aktivieren – dabei steht auch das Land Pate. Im zweiten Schritt ist das Ziel, die Dienste und Netzwerke von der ambulanten Pflege und der Tagespflege bis zur Nachbarschaftshilfe auszubauen und die häusliche Pflege zu stärken, damit Menschen zuhause bleiben können, auch im Pflegefall – gut unterstützt und in verschiedenen Wohnvarianten.

Wenn es zuhause nicht mehr geht, braucht es den „Plan B“, zum Beispiel ambulant betreute Wohngemeinschaft. Hier ist auch Unterstützung durch das Land gefordert, etwa wenn ein Begegnungsort geschaffen werden muss. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Bürgerinnen und Bürger gerne in ihr Konzept und dessen Umsetzung investieren.

Diese Investition hat viele Gesichter: etwa eine Bürgergemeinschaft, Ehrenamt, Spenden, Kauf einer Eigentumswohnung mit Barrierefreiheit oder Anteile-Modelle. Wenn es gar nicht anders geht, kann auch ein Investor von außen aktiv unterstützen. Das ist mittlerweile eher der seltene Fall. Wir kennen mit unserem Beraterteam kaum noch Gemeinden, wo die Konzeptumsetzung an der Investition scheitert.

Irslingen hat sich da auf einen langen Weg eingelassen, mit Bürgertischen und einer großen Fragebogen-Aktion: Welche Ergebnisse haben Sie als erfahrenen Begleiter solcher Prozesse dabei am meisten überrascht?

Irslingen und seine aktiven Bürgerinnen und Bürger haben sich sehr bewusst für einen intensiveren Veränderungsprozess mit Situationserhebung, Themen der Zeit und Zukunftsvisionen und deren Umsetzung entschieden. Überrascht hat mich ehrlich gesagt, dass diese kleine, überschaubare Ortschaft mit einem enormen Engagement so mutig in den Prozess eingestiegen ist und ihn durchgezogen hat. Es waren sehr viele beteiligt, die sich mit großen Ideen aber auch Bereitschaft zum Anpacken einbringen. Das ist schon bemerkenswert.

Was mich zudem überrascht hat ist, dass die Menschen vor Ort ein starkes Miteinander pflegen – im Backhaus, in Aktionen, in der Kirche, in der Traditionspflege und in Vereinen. Das habe ich andernorts selten so stark erlebt.

Dieses Miteinander ist eine zentrale Vor­aussetzung, um einer Ortschaft in dieser Größe eine Chance für die Zukunft zu geben. Nicht zuletzt gibt es eine Reihe hoch Engagierter, die mir Mut machen. Sie treiben die Dinge voran und bringen sich in einzelnen Feldern besonders ein. Diese drei Faktoren zusammen bieten eine besonders gute Basis für die Zukunft.

Wie wirkt sich so ein Prozess auf die Dorfgemeinschaft aus?

Die Leute haben vor allem an den Bürgertischen intensiv über die Ortschaft nachgedacht, haben Handlungskonzepte und Maßnahmen entwickelt. Das ist die Sachebene. Dabei hat sich aber ein spannender Nebeneffekt eingestellt, den ich immer wieder beobachte: Man kommt miteinander ins Gespräch. Viele Leute kennen sich zwar manchmal oberflächlich, aber es entsteht in diesem Prozess ein intensiver Austausch, gerade zwischen Jung und Alt, wie er sonst nicht zustande kommen würde. Und die Leute sehen, dass diese gemeinsame Arbeit auch Spaß macht.

Das ist ganz wichtig: Man wächst an der Aufgabe und in der Gemeinschaft. Es ist schon enorm, was man da alles sehen kann. Wenn ich heute als Auswärtiger aus der Ravensburger Ecke nach Irslingen komme, werde ich immer freundlich angesprochen, als gehörte ich schon immer dazu. Das ist schön und man fühlt sich gleich inte­griert – was will man mehr, nichts bleibt im Alter wirklich, als die engsten Beziehungen.

Das Ganze ist ja auch gelebte Partizipation: jede und jeder wird gefragt, kann sich äußern und einbringen – bietet das ein Modell für die Vitalisierung unserer strapazierten demokratischen Kultur?

Ja, unbedingt! Es geht im Grunde um unsere Werte und Einstellungen, um Teilhabe in allen Bereichen, um das Miteinander der Generationen. Die Beteiligung in Irslingen ist gelebte Demokratie. Das war toll, auch wenn nicht alle mit an Bord waren.

Natürlich gibt es den einen oder anderen, dem die Zeit fehlt, sich einzubringen und mancher wird vielleicht skeptisch noch in der Ecke sitzen oder sagen: Das wird nichts. Mit den ausschließlichen Kritikern und Schimpfern werden keine Gemeinschaft von Jung und Alt und eine lebenswerte Zukunft entstehen.

So ist das aber überall. Die Umsetzung der Projekte werden jedoch dazu führen, dass es immer mehr Anhänger gibt, weil sie sehen: Es geht um sie selber, ihre Nachbarn, um die Menschen in der Ortschaft. Das ist eine „win-win-Situation“, von der alle profitieren und in der keiner ausgegrenzt wird, egal, ob er alt, pflegebedürftig oder dement ist oder ganz jung und mobil. Alle sind beteiligt, auch Bürger, Organisationen, sozial Tätige, Dienstleister, Handwerker. Es braucht einen starken Schulterschluss – und das ist, wie ich meine, auch eine besonders attraktive Chance.

Wie wird sich Irslingen Ihrer Einschätzung nach in den nächsten Jahren verändern?

Ich bin kein Prophet. Aber ich glaube, es wird sich ein starker Wandel vollziehen in Richtung einer, wie wir in der Altersforschung und Altersentwicklung sagen, „umsorgenden Gemeinschaft“. Es wird den Irslingern zu einem guten Teil gelingen, ihre Ideen und Visionen umsetzen – davon bin ich überzeugt. Das erstreckt sich auf viele Bereiche, etwa Begegnung, Tagesangebote in der Pflege, die Unterstützung pflegender Angehöriger, aber auch die Entwicklung neuer Wohnformen – die sind besonders spannend und interessant, denn sie bieten wirklich Perspektive.

Was kann der Irslinger im Alter mehr wollen, als mit guter Einbindung und Lebensqualität in seiner Umgebung bleiben zu können? Aus meiner Sicht wäre das die „Krönung“ von Bürgerkonzeption und Teilhabe.

Wie können solche neuen Wohnformen aussehen – können Sie da mal ein Beispiel nennen?

Das Förderprogramm „Quar­tiersimpulse“ der Allianz für Beteiligung in Baden-Württemberg ist bekannt für Innovationen und zivilgesellschaftliche Ansätze. In der Vielzahl der Wohnformen werden beispielsweise immer mehr „Mehrgenerationshäuser“ gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern konzipiert: Ein Wohnprojekt, in dem auch Menschen mit hohem Pflegebedarf oder an Demenz Erkrankte leben und wohnen können. Die Gestaltung verschiedener Wohnprojekte mit einem Mix an Wohnformen haben die Irslinger jetzt auf ihrer Zukunftsagenda.

Irslingen ist eine der klein­sten Orte im Land, die sich dieser Aufgabe so offensiv gestellt haben – was können andere Gemeinden denn von Irslingen lernen?

Von den Städten und Gemeinden, die meine Kollegen und ich begleiten, ist Irslingen in der Tat die kleinste Ortschaft. Es sind Städte mit bis zu 100.000 Einwohnern dabei, Irslingen zählt etwa 900. Man kann daraus lernen, dass die Größe einer Gemeinde, die Infrastruktur oder das Geld gar nicht die entscheidendsten Faktoren sind, um aktiv zu werden, sondern dass auch in einer kleinen Gemeinde das Miteinander Schubkraft für die Zukunft geben kann.

In dieser Hinsicht ist Irslingen für mich ein glänzendes Beispiel, was man mit Gemeinschaft erreichen und dem Ort eine lebbare Perspektive geben kann. Das ist wirklich vorbildhaft!

Die Fragen stellte unser Redakteur Andreas Linsenmann.

Info: Die Veranstaltung am 29. Januar in der Waidbachhalle beginnt um 18.30 Uhr.

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