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Misstöne im Landgericht Rottweil, oder: Wenn die Tonanlage brüllt

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In den altehrwürdigen, gut sechs Meter hohen Schwurgerichtssaal des Landgerichts Rottweil wird hereingeführt, wer so richtig was auf dem Kerbholz hat. Den Mördern, Räubern, Totschlägern der Region wird dort der Prozess gemacht. Und während dies geschieht, herrscht meist große Konzentration. Einer redet, alle anderen hören zu. Außer, wenn die Tonanlage brüllt. Was aber eine Ausnahme sei, erfahren wir.

Sie stammt offenbar von Sennheiser, man möchte ihr aber einen anderen Namen geben. Agathe, Hildegard, irgendeinen, Verzeihung, tendenziell eher unangenehmen Frauennamen. Denn sie kann zickig sein und bestimmend, herrschsüchtig und mitunter vollkommen unverständlich: die Tonanlage im großen Schwurgerichtssaal 201 im zweiten Stock des Rottweiler Gerichtsgebäudes.

Über diese Anlage sollen sich die Beteiligten eines Prozesses – wenigstens drei Richter, ein Staatsanwalt, ein Verteidiger, ein Angeklagter, ein Zeuge, also sieben Leute, die alle selbstverständlich auch weiblich sein können – untereinander verständlich machen. Und den Zuhörerinnen und Zuhörern im Saal. Das geschieht über Tischmikrofone und ein Lautsprechersystem. Man kann recht beliebig weitere Angeklagte hinzuaddieren, mitunter noch Dolmetscher, diese unter Umständen auch für den Zeugen. Dazu Nebenkläger und Nebenklagevertreter. So landet man schnell bei einer gut zweistelligen Zahl an angeschlossenen Mikrofonen, die ein jeder Sprecher, eine jede Sprecherin selbstständig ein- und ausschalten können. Die Wiedergabe erfolgt über Saallautsprecher.

Eingang zu Saal 201 des Rottweiler Landgerichts. Foto: gg

Nun hat diese Anlage ein Eigenleben. Zunächst einmal braucht sie grundsätzlich länger, um in die Gänge zu kommen, als selbst ein Schotte nach durchzechter Nacht. Vorher flüstert der Verstärker ein wenig vor sich hin, mühen sich die Beteiligten, etwas lauter zu sprechen, dem Mikrofon näherzukommen, spitzen die Prozessteilnehmer und -beobachter die Ohren.

Doch dann gibt das Ding Gas. Als würde plötzlich ein doppelter Espresso wirken. Die Anlage wird unvermittelt um einige Dezibel lauter. Entspannung bei den Prozessteilnehmern. Ja, jetzt hört man was. Jetzt geht’s. Vor allem dann, wenn der jeweilige Sprecher ein Mikrofon vor den Lippen hat, das gerade funktioniert. Das tun nicht alle.

So ist das okay, aber wenn dann ein zurückhaltender Zeuge vernommen wird, einer mit besonders leiser Stimme, dann kann es unangenehm werden. Das war an einem Morgen Anfang November so. Für ihn, den unscheinbaren Zeugen, der von sich selbst sagt, er sei noch nie der lauteste Redner gewesen, hatte der Vorsitzende Richter der Großen Schwurgerichtskammer gerade den Ton der Anlage lauter gestellt. Allerdings in deren Aufwachphase. Und dann gab das Ding Gas. Und wie! Es pfiff und dröhnte, dass es eine wahre Pracht war. Das Ding brüllte los, als gäbe es kein Morgen mehr. Die ganze Ehrfurcht, die Konzentration – dahin. Der Richter griff ein, regelte die Anlage herunter. Der Verstärker befindet sich im Richterzimmer nebenan, er musste sich also sputen. Er rannte, dass die Robe wehte. Und als er wieder saß und alles wieder funktionierte, es stille war im Saal, da meinte man, ihn mit den Zähnen knirschen zu hören. Nur ganz sachte, ganz leise, aber doch ein wenig.

Das zur Verständlichkeit der Prozessteilnehmer im Saal. Unter Umständen befindet sich aber ein zu vernehmender Zeuge gar nicht dort. Etwa, weil er durch ein Feuer schwer verletzt in einer Klinik liegt. So sind unter den Verbrechern, die in den Saal 201 geführt werden, auch Brandstifter.

Der Prozess hier, der Zeuge dort – das nennen die Richter eine audiovisuelle Vernehmung. Wobei an dieser nur die sichtbare Seite zufriedenstellend funktioniert. Der Ton kommt – trotz der Anlage im Saal – aus den Lautsprechern eines großen Fernsehschirms. Man kennt diese Dinger: Sie nehmen den Frequenzbereich der menschlichen Stimme, ziehen Tiefen und Höhen ab und verstärken die Mitten, dass es dröhnt. Dann schicken sie das Ergebnis, angereichert durch das Knarzen und Wummern des Plastikgehäuses, in den weitläufigen Saal, wo es mit sich selbst Echo spielen kann. Die Schwurgerichtskammer versucht derweil, Lautstärke hinzuzugeben. Das Resultat: Ein Dröhnen, bei dem man sich während des Prozesses fragt, ob denn noch die Öffentlichkeit hergestellt ist, wenn keiner mehr etwas versteht, jedenfalls niemand auf den Presseplätzen und im Zuschauerraum. So geschehen am vergangenen Donnerstag.

Das Thema ist im Landgericht bekannt. „Zu der konkreten Verhandlung am letzten Donnerstag habe ich mit dem Vorsitzenden Rücksprache gehalten“, berichtet Dr. Torsten Hub, der Vizepräsident des Landgerichts Rottweil, auf Nachfrage der NRWZ. Diesem, dem Vorsitzenden Richter der Großen Schwurgerichtskammer, sei es „grundsätzlich sehr wichtig, dass nicht nur die Verfahrensbeteiligten, sondern auch die Zuhörerinnen und Zuhörer der Verhandlung folgen können“.

Nun gibt es im Schwurgerichtssaal zwei technische Systeme, „zum einen die Ton-/Lautsprecheranlage, zum anderen die Video(konferenz)anlage“, so der Vizepräsident. Beide Anlagen seien nicht miteinander kompatibel.

Zunächst einmal sei die Videoanlage im Saal hochmodern, so folge die Kamera dem Sprechenden. „Sie funktioniert ausgezeichnet und zuverlässig“, bescheinigt ihr Hub. Sie habe sich neben audiovisuellen Vernehmungen in Strafverfahren auch bei zahlreichen Rechtshilfevernehmungen bestens bewährt. Der Vize-Landgerichtspräsident berichtet weiter: „Im Zuge der weiteren Digitalisierung der Justiz, insbesondere der Einführung der eAkte auch in Strafsachen spätestens ab 2026 wird voraussichtlich (ergänzend) weitere Videokonferenztechnik im Saal 201 installiert. Es bestehen generell Planungen des Ministeriums der Justiz und für Migration Baden-Württemberg, die Sitzungssäle der Gerichte in den nächsten zwei Jahren mit weiterer zentral beschaffter fest installierter und mobiler Videokonferenztechnik auszustatten.“ Ein exaktes Konzept für den Standort Rottweil gebe es aber noch nicht.

Die Ton- und Lautsprecheranlage wiederum, die parallel zu der neuen Videoanlage existiert, „wurde bereits vor über 20 Jahren installiert“, so Hub. „Das genaue Datum konnten wir auf die Schnelle nicht finden“, gibt er zu. Sie sei aber 2019 umfangreich gewartet worden, „wobei uns bewusst ist, dass dadurch nicht der Standard eines hochmodernen Systems erreicht wurde.“

Bisher ist die Tonanlage des Schwurgerichtssaals mit der Videoanlage laut Hub inkompatibel. „Es ist deshalb technisch nicht möglich, die Tonspur aus der Videokonferenztechnik über die Saallautsprecher der Mikrofonanlage ablaufen zu lassen“, sagt er. Ob dies künftig möglich sei, „können wir Stand jetzt nicht sagen, werden wir aber erst sinnvoll prüfen können, wenn weitere Videokonferenztechnik im Saal eingebaut wird.“ 

Der Vize-Landgerichtspräsident ergänzt: „Die hiesigen Richterinnen und Richter sowie die Wachtmeister kennen sich mit den Anlagen aus und können diese bedienen. Bei größeren technischen, etwa Hardware-Problemen, ziehen wir externe Techniker bei.“ Eigene Techniker hierfür habe die Justiz nicht. Bei größeren Softwareproblemen helfen ihr die Landesoberbehörde IT Baden-Württemberg (BITBW) und das IuK-Fachzentrum der Justiz. Zudem gebe es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an jedem Gericht, die für die Behebung kleinerer Hard- und Softwareprobleme geschult seien.

Ein solches Tohuwabohu wie zuletzt hatten die in Saal 201 auch noch nicht. „In früheren Verfahren hat es beim – häufig praktizierten – Einsatz der Videokonferenzanlage keine Schwierigkeiten gegeben“, hat Dr. Hub im Hause recherchiert. In der Sitzung am Donnerstag sei auf Hinweis des Verteidigers die Lautstärke zu Beginn der Videovernehmung so verändert worden, dass die Verständlichkeit besser gewesen sei. In der Folge seien keine Hinweise auf Verständnisschwierigkeiten mehr gekommen – auch nicht aus dem Bereich der Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich ansonsten in diesem Verfahren bemerkbar gemacht hätten. Sofern es dennoch akustische Probleme gegeben haben sollte, bedauere dies der Vorsitzende Richter, ergänzt der Landgerichts-Vizepräsident.

Auf Signale, die aus dem Zuhörerraum kämen, dass die Verständlichkeit nicht gegeben sei, reagiere der Vorsitzende jeweils unverzüglich und schaffe, etwa auch durch den Austausch der Mikrofone, Abhilfe, so Hub. Das hat die NRWZ auch so beobachtet.

Die Qualität des Tons hänge bei dem Einsatz der Videokonferenztechnik aber nicht nur von der Hard- und Software ab im Landgericht selbst ab, „sondern in gleicher Weise von der am anderen Ende der Leitung eingesetzten Technik sowie der Leitungsqualität“, sagt Dr. Torsten Hub. Und auf diese „haben wir häufig keinen Einfluss“. Insgesamt lasse sich aber sagen, dass die vorhandene Videokonferenztechnik, die auch häufig in Zivilverfahren zum Einsatz kommt, sehr zuverlässig und qualitativ hochwertig funktioniere. „Probleme hiermit“, schließt der Vize-Landgerichtspräsident, „sind glücklicherweise die absolute Ausnahme.“

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Peter Arnegger (gg)
Peter Arnegger (gg)https://www.nrwz.de
... ist seit gut 25 Jahren Journalist. Mehr über ihn hier.