ROTTWEIL. Montagabend in Rottweil: Die Menschenkette kann die Teilnehmerzahl halten, die „Spaziergänger“ verlieren derzeit an Zuspruch. Der Druck im Kessel steigt allerdings. Es gab erste Auseinandersetzungen mit der Polizei, die nun zur Zielscheibe der Corona-Maßnahmen-Kritiker wird. „Widerstand! Widerstand!“-Rufe schallten durch Rottweil. Der Abend stand auf der Kippe. Vereinzelt schnappten sich die Beamten Demonstranten. Vom Stress unbehelligt: die Teilnehmenden an der Menschenkette. Deren Organisatoren haben angekündigt, noch diese Woche ein Friedensangebot zu unterbreiten „einen neuen Weg beschreiten zu wollen, um eine Befriedung zu erzielen“*.
Einerseits die Menschenkette
Seit nunmehr vier Wochen rufen die Veranstalter montagabends in der Fußgängerzone von Rottweil zur Bildung einer Menschenkette auf. „Da diese Menschenkette beim Ordnungsamt der Stadt angemeldet ist, können die sogenannten ‚Spaziergänger‘ die Obere Hauptstraße in der historischen Innenstadt nicht mehr nutzen“, so Mitorganisator Peter Bruker, Mitglied im Kreisvorstand der Grünen. Bruker hatte am Samstag auch in der Oberen Hauptstraße gestanden, immer mal wieder gegen die Sprecher der AfD bei deren Kundgebung angebuht. Organisiert wurde und wird die Menschenkette von ihm und von der FFR-Stadträtin Elke Reichenbach. Sie legen Wert darauf: „Getragen wird die Menschenkette auch von CDU, SPD und Stadt- und Kreisjugendring.“ Gut 200 Menschen, so Bruker, seien wieder dabei gewesen.
Andererseits die „Spaziergänger“
Die andere Seite: Mit ihrer unangemeldeten Demonstration waren zudem die „Spaziergänger“ an diesem Montagabend wieder in Rottweil unterwegs. Sie versammeln sich seit Mitte Dezember wöchentlich, um gegen die Coronamaßnahmen zu protestieren und gegen eine Impfpflicht. Ihre Zahl war zwischenzeitlich auf knapp 1500 angestiegen. Diesen Montag waren sie laut Polizei 950 Demonstranten.
Um ihrem Protest gegen die Coronamaßnahmen Ausdruck zu verleihen, versammeln sie sich zum Abschluss ihres Rundgangs jeweils – laut johlend und pfeifend, teils auch „Oh, wie ist das schön“ singend. Und manchmal „Wir sind das Volk“ rufend. Wobei das schon zur Dezimierung ihrer Teilnehmendenzahl geführt hat. Hygieneregeln wie Mindestabstand und Maskenpflicht halten sie nicht ein.
Zwischendrin: die Polizei
Und an diesem Montag waren sie einige von ihnen erstmals auf Stress aus. Den Beteuerungen, es gehe ihnen um Liebe, Frieden und Freiheit, zum Trotz. Den ersten Stress bekam ein Autofahrer, der sich nicht von den „Spaziergängern“ aufhalten lassen wollte, die die Straße querten – was bei mehreren hundert Menschen eine Zeit lang dauert. Gegen 18.15 Uhr war das, in der Königstraße. Der Autofahrer stieg aufgebracht aus, wollte sich den Demonstranten schnappen, der ihm seiner Ansicht nach auf die Motorhaube geschlagen hatte. Dieser schien ebenfalls bereit zum Kampf. Andere „Spaziergänger“ hielten beide auseinander. Unterdessen heizte ein weiterer Autofahrer die Szenerie durch Hupen an, ein anderer drehte fast durch, wollte endlich weiter.
Die Polizei greift zu dieser Zeit andernorts, auf der Höhe der Volksbank, einzelne Demonstranten heraus. Wegen Verstoßes gegen die Maskenpflicht. Einer zeigt ein Attest vor, wonach er eine Lungenerkrankung habe, ihm das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes unzumutbar sei.
Gegen 18.45 Uhr hat sich auf der Hochbrücktorstraße ein Pulk von Menschen gebildet. Dutzende blockieren die Straße, der Verkehr kommt zum Erliegen. Sie attackieren die Polizei. Auslöser: eine Personenfeststellung, so ein leitender Beamter später zur NRWZ. Eine Verhaftung, so zeigen Bilder. „Schämt euch!“-Rufe hallen durch die Straßen. Streifenwagen rücken nach. Ein Kordon aus Beamten schützt die verhaftenden Kollegen, angeblich ist Pfefferspray im Einsatz. Die Situation wird brenzlig. Ein leitender Beamter erklärt der NRWZ später, dass „Emotion drin“ gewesen sei. Viele der Demonstranten rufen „Widerstand!“. Einige äußern ihren Unmut den Beamten gegenüber, in denen sie Handlanger des diktatorischen Staats sehen. Rufen „Grundgesetz! Grundgesetz!“
Es kommt auch zu Rempeleien, eine Beamtin etwa bekommt scheinbar versehentlich die Schulter eines „Spaziergängers“ ab. Sie kennt ihn schon, Minuten vorher hatte er zu den Rädelsführern gehört. Grinsend ruft er „Hoppla!“, sie steckt den Angriff weg, ein Kollege bringt sie mitfühlend wieder zum Lachen.
Gegen 19.30 Uhr ist der Spuk vorbei. Die Polizei hatte ihre Beamten aus der Hochbrücktorstraße abgezogen, eine Strategie der Deeskalation verfolgt. Die „Spaziergänger“ quittierten das mit Beifall und Pfiffen – aber am Ende auch damit, dass sie die Szenerie verließen.
Eine Auflösung des Pulks aus fast tausend Menschen hatte, so erfuhr die NRWZ, seitens der Polizei offenbar nie zur Debatte gestanden. Verkehrsbehinderung hin, Ignoranz gegenüber den Coronaauflagen her: Die Kräfte der Polizei hätten an diesem Montagabend nicht ausgereicht. In den nächsten Tagen wird eine Bewertung der Lage erfolgen.
Neue Zielscheibe: die Polizei
An diesem Montagabend haben sich die beiden Gruppen – „Spaziergänger“ und Gegendemonstranten – damit erstmals nicht mehr unmittelbar gegenüber gestanden. Die Polizei hat sie einerseits inzwischen räumlich stark voneinander getrennt. Außerdem haben sich die „Spaziergänger“ nun einen weiten Weg um die Innenstadt herum gesucht – und die Teilnehmenden an der Menschenkette und ihre Friedenslieder und Kerzen links liegen gelassen.
Die Folge: Die Aggression richtete sich nun gegen die Polizei. Die Beamten sind zur Zielscheibe geworden.
Das Montagsritual
Dabei war der Mittag noch dem eingespielten Ritual gefolgt. Gegen 16 Uhr zog die Polizei ihre Kräfte in der Innenstadt zusammen, wieder eine mittlere zweistellige Zahl an Beamten aus Rottweil und vom Polizeipräsidium Einsatz. Die Obere Hauptstraße wurde abgeriegelt, die Teilnehmenden an der Menschenkette sammelten sich. Zu ihrer angemeldeten Demonstration.
Die Stadtverwaltung sperrte wieder die Zufahrten zu den Parkplätzen am Nägelesgraben. Anreisende Demonstranten hatten es damit schwerer, einen innenstadtnahen Parkplatz zu finden.
„Wir haben Kritik geerntet, wir säten Unfrieden“, so Menschenketten-Mitorganisatorin Elke Reichenbach gegen 17.55 Uhr. „Wir wollen aber nicht auf andere zeigen“, sagte sie weiter. „Wir stehen hier, weil rechte Gruppen einen Keil in die Gesellschaft treiben wollen.“ Auf diese, die sie als Nazis bezeichne, wolle sie mit dem Finger zeigen. Diese Menschen nutzten die Proteste der Spaziergänger, um an den Grundfesten der Demokratie zu rütteln.
Kurz vor 18 Uhr machte die Polizei den sich am Friedrichsplatz und in der Hochbrücktorstraße sammelnden „Spaziergängern“ die übliche Ansage. Es handele sich um eine unangemeldete Demonstration, Maskenpflicht und Abstand seien einzuhalten. Die Teilnehmenden interessiert das nicht. Sie brechen zu ihrem Rundgang auf. Unterdessen läuft „Heart Of Gold“ aus den Lautsprechern in der Oberen Hauptstraße.
Neuer Weg der Befriedung angekündigt
Übrigens: Dieses unversöhnliche Gegeneinander, das wollen Reichenbach und Bruker offenbar beenden. „Wir haben uns nun überlegt, dass wir einen neuen Weg beschreiten wollen, um eine Befriedung zu erzielen“, erklären sie in einer am Montagnachmittag verschickten Mail. „Dieser Weg ist nach unserer Kenntnis bislang einzigartig im Land, beim Umgang mit dem Phänomen der sogenannten Spaziergänger“, schreiben sie weiter.
Um uns dann auf die Folter zu spannen. Denn sie wollen diesen neuen Weg erst am kommenden Mittwoch im Rahmen eines Pressegesprächs vorstellen. Wir sind gespannt.
Polizei im ganzen Land gefordert
Unterdessen war die Polizei auch im Land Baden-Württemberg am Wochenende wieder stark gefordert. Darüber berichtet das Innenministerium.
In der Innenstadt von Ulm hatten sich am Freitag rund 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer versammelt, die überwiegend keinen Mund-Nasen-Schutz trugen. Bei einer Identitätsfeststellung widersetzte sich ein Demonstrant den polizeilichen Maßnahmen. In der Folge kam es zu einer Solidarisierung mehrerer Impfgegner mit dieser Person und schließlich zu mindestens zwei Flaschenwürfen gegen die Einsatzkräfte. Ein Beamter wurde leicht verletzt und musste sich in ärztliche Behandlung begeben. Unmittelbar an der Absperrung zu einer angemeldeten Gegen-Kundgebung herrschte eine aggressive Stimmung, es kam zu Beleidigungen gegenüber Polizeibeamten. Das Polizeipräsidium Ulm leitete entsprechende Ermittlungsverfahren ein. Insgesamt gingen am Freitag landesweit mehr als 3500 Menschen bei 18 Versammlungen auf die Straße, davon standen 15 im Kontext der Coronapandemie.
Insgesamt wurden am vergangenen Wochenende (Freitag, 4. Februar bis Sonntag, 6. Februar 2022) landesweit 73 überwiegend störungsfreie Versammlungen unter Beteiligung von etwa 23.700 Bürgerinnen und Bürgern polizeilich begleitet, davon 61 Protestaktionen mit unmittelbarem Bezug zur Coronapandemie. Insgesamt waren rund 2000 Einsatzkräfte gefordert. Auch wenn die meisten Kundgebungen und Aufzüge überwiegend friedlich verliefen, wurden von der Polizei insgesamt 33 Straf- und 60 Ordnungswidrigkeiten-Verfahren eingeleitet. Es kam zu 452 Personenüberprüfungen und etlichen Platzverweisen.
Am Samstag beteiligten sich landesweit knapp 16.700 Personen an 31 Demonstrationen. 22 davon richteten sich gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie, drei Demonstrationen wurden von Befürwortern durchgeführt.
Bei der teilnehmerstärksten Versammlung in Reutlingen versammelten sich bis zu 7500 Personen zu einem Aufzug durch die Innenstadt. Kurzzeitig blockierten rund 150 teils vermummte Personen die Aufzugsstrecke. Die Gruppierung wurde durch Polizeikräfte zurückgedrängt, letztlich wurden 50 Platzverweise erteilt.
An einem Aufzug durch die Freiburger Innenstadt nahmen rund 4000 Demonstranten teil, an einer Gegenversammlung beteiligten sich in der Spitze rund 300 Personen. Knapp 50 Radfahrerinnen und Radfahrer, der linken Szene zuzuordnen, versuchten erfolglos den Aufzug zu blockieren. Insgesamt wurden zehn Straftaten und fünf Ordnungswidrigkeiten festgestellt.
In Karlsruhe belief sich die Teilnehmeranzahl zeitweise auf rund 2200 Personen. Der Aufzug wurde aufgrund der überwiegenden Nichteinhaltung der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung zweimal angehalten.
In Stuttgart fand ein Aufzug der Querdenker-Bewegung statt, an welchem sich rund 1000 Personen beteiligten. Ferner nahmen an einer Demonstration anlässlich der Angriffe der Türkei auf kurdische Gebiete rund 350 Personen teil. Beide Demonstrationen wurden auch hier kurzzeitig gestoppt, da die Maskentragepflicht teilweise missachtet oder verbotene Parolen skandiert wurden.
Trotz des regnerischen und stürmischen Wetters demonstrierten am Sonntag rund 3500 Menschen bei 24 Versammlungen, wovon 21 einen Bezug zur Coronapandemie aufwiesen. Die Versammlungen verliefen weitestgehend störungsfrei. Die teilnehmerstärksten Versammlungen gegen die Coronamaßnahmen fanden in Albstadt-Ebingen (1100) und in Stockach (820) statt.
„Der Polizei danke ich ausdrücklich für ihr professionelles und besonnenes Vorgehen. Wir dürfen nicht vergessen: In den Uniformen stecken Menschen, denen in der letzten Woche auf schreckliche Art und Weise vor Augen geführt wurde, wie gefährlich ihre Arbeit sein kann“, so Innenminister Thomas Strobl.
Neben dem Versammlungsgeschehen konzentrieren sich die Maßnahmen der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte des Landes weiterhin auf die Kontrollen zur Einhaltung der Corona-Verordnung. Allein zwischen Freitag, 4. Februar 2022, und Sonntag, 6. Februar 2022, wurden 4850 Personen und knapp 2.500 Fahrzeuge kontrolliert. Dabei wurden rund 300 Verstöße gegen die Corona-Verordnung festgestellt. Ein Großteil davon bezog sich mit rund 250 Verstößen auf die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung.
„Unsere Polizistinnen und Polizisten leisten eine wertvolle Arbeit bei der Bekämpfung der Coronapandemie. Unsere Polizei kontrolliert konsequent, verhältnismäßig, angemessen und mit Augenmaß: Seit Beginn der Coronapandemie wurden von der Polizei Baden-Württemberg mehr als 2,28 Millionen Personen und 845.000 Fahrzeuge kontrolliert sowie rund 383.500 Verstöße gegen die erlassenen Verordnungen festgestellt“, erklärte Minister Thomas Strobl.
*Wir hatten zunächst von einem Friedensangebot geschrieben. Dies war eine Fehlinterpretation unsererseits.