Rottweil. Am kommenden Dienstag wird Dieter E. Albrecht (57) der Prozess gemacht. Vor dem Amtsgericht Rottweil muss er sich verantworten, weil er am 18. April 2021 für längere Zeit draußen unterwegs gewesen ist – während der Corona-Ausgangssperre. In einer ersten Stellungnahme hatte er gegenüber dem Ordnungsamt noch erklärt, er spaziere „aus gewichtigen Gründen“. Inzwischen hat er das zugespitzt: „Es ging um Leben und Tod.“
Es ist der 18. April 2021. Es ist nachts, zwischen 21 und 22.30 Uhr. Die Temperatur liegt knapp unter Null, immerhin regnet es nicht. Es ist ruhig draußen, denn es herrscht Ausgangssperre. Seit 7. April 2021 gilt im Landkreis Rottweil die „Notbremse“ wegen des über der Schwelle von 100 liegenden Inzidenzwertes. Nachdem der weiter auf hohem Niveau gelegen hatte, sah der Landkreis eine nächtliche Ausgangsbeschränkung für unabwendbar an. Sie galt ab Samstag, 17. April, 0 Uhr und jeweils zwischen 21 und 5 Uhr. Rechtsgrundlage für diese Entscheidung war die Coronaverordnung des Landes.
Fußbad nach Sebastian Kneipp genommen
Einer spaziert mitten hinein in diese Ausgangssperre. Es ist Dieter E. Albrecht, früher Stadtrat und Abschleppunternehmer, heute Not-/Dienstleister, Betriebsberater, Tänzer, Reisender, vorübergehend Montags-Spaziergänger und Nacktkünstler. Ein Foto zeigt den Mann am Mädelesbrunnen. „Unter anderem badete ich zur Abhärtung, ganz nach Sebastian Kneipp, dabei meine Füße“, so Albrecht heute. Der 57-Jährige stuft das Bild als Beweismittel ein. Albrecht erklärt das: “Das Foto war von mir erstellt, in meinem Facebook-Profil veröffentlicht und mutmaßlich vom Ordnungsamt dort entdeckt oder von einem Denunzierenden an dieses gemeldet worden.“ Daraufhin erfolgte die Anhörung und letztlich der Bußgeldbescheid der Stadt. “Kurios ist, dass das Gericht von der Stadt schriftlich ein besseres Foto für die Verhandlung forderte. Davon wurde ich als Angeklagter in Kenntnis gesetzt“, so Albrecht.
Am 7. Mai 2021, er hat das alles der NRWZ zur Verfügung gestellt, erhielt Albrecht Post vom Ordnungsamt. In dem Schreiben mit dem Titel „Anhörung – Ahndung von Ordnungswidrigkeiten“ heißt es: „Ihnen wird vorgeworfen, folgende Ordnungswidrigkeit(en) begangen zu haben: Aufenthalt außerhalb der Wohnung oder sonstigen Unterkunft ohne triftigen Grund. Sie hielten sich am 18.04.2021 von 21:00 Uhr bis 22:31 Uhr trotz eines Aufenthaltsverbots außerhalb der Wohnung oder sonstigen Unterkunft im öffentlichen Raum (Hochturmgasse, Mädelesbrunnen, 78628 Rottweil) ohne triftigen Grund auf. Somit haben Sie gegen die Allgemeinverfügung des Landkreises Rottweil verstoßen.“
Es war nicht das einzige Mal, Albrecht spazierte immer wieder. Immer mitten in die Ausgangsbeschränkungen hinein. Und der heute 57-Jährige kündigte das damals auf Facebook an, was allerdings keine größere Aufmerksamkeit erregte.
Einspruch gegen Bußgeldbescheid
Auf die Tat steht laut damaligem Bußgeldkatalog eine Strafe zwischen 50 und 500 Euro, meist wurden 75 verhängt. Albrecht hätte das bezahlen können, doch er tut es nicht. Am 28. Juni 2021 legt er Einspruch ein. Wenige Tage darauf begründet er diesen ausführlich. Zu diesem Zeitpunkt sind Kosten in Höhe von 178,50 Euro aufgelaufen für Bußgeldbescheid und Verfahren.
Albrecht aber hat nach eigenen Angaben Gründe für sein Verhalten. Und zwar eine ganze Menge. Grundsätzlich-politische, überwiegend. Und einen rein persönlichen. Eine Auswahl, Auszüge aus seinem Einspruch vom 11. Juli 2021:
- „Die Ausgangssperre, und damit die Einschränkung meiner Grundrechte, war völlig unverhältnismäßig und damit nicht zulässig.“
- „Ebenso war dadurch mein Freizügigkeitsrecht (Art. 11 Abs. 1 GG) betroffen, welches die freie Wahl des Aufenthaltsortes schützt. Zumindest dufte die Einschränkung auf keinen Fall so weit gehen, dass ich mich nicht mehr fußläufig um meine Wohnung herum in der Stadt spazierend bewegen durfte und darf.“
- „Mit der Ausgangssperre in diesem Maße wurde aus meiner persönlichen Sicht auch meine Würde (Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt. Einem Menschen ohne verhältnismäßigen Grund einfach Hausarrest zu verordnen, ist entwürdigend.“
- „In keinem Fall war eine Verhältnismäßigkeit gegeben, Grundrechte derart einzuschränken. Aerosolforscher hatten schon lange belegt, dass im Freien eine Ansteckung ausgeschlossen ist, dies zumindest ab einem gewissen Abstand. Alleine spazieren gehen dürfte genügend Abstand darstellen.“
- „Das reine Festmachen an Inzidenzwerten, wie es vorwiegend in Deutschland gehandhabt wird, ist ohnehin ungeeignet, Grundrechte derart einzuschränken.“
- „Meine Spaziergänge können auch als öffentlicher Protest bzw. Meinungsäußerung und Demonstration angesehen werden.“
Und schließlich die mutmaßliche Kernthese Albrechts, die er ausführlich ausführt. Er schreibt: Alle Ausgangsbeschränkungen, auch die im April, ließen bisher immer definierte Ausnahmen zu, sofern ein ‚wichtiger Grund‘ vorliegt. Ich hatte einen wichtigen Grund: Es ging um Leben und Tod!“
Denn während der nächtlichen Ausgangssperre vom 12. Dezember 2020 bis 11. Februar 2021 sei er „als alleinlebender Single immer mehr in eine Depression“ verfallen. Albrecht berichtet frei von der Leber weg von einer, wie er es nennt, Fresssucht, und steigendem Alkoholkonsum. Er habe stark zugenommen, rund 24 Kilogramm. Damit habe Suizidgefahr ebenso bestanden, wie die Gefahr von Herz-Kreislauf-Versagen, die Gefahr einer chronischen Depression und die Gefahr von Alkoholismus – „alles mit möglichen Todesfolgen oder zumindest schwersten Erkrankungen“, konstatierte der heute 57-Jährige vor rund einem Jahr.
„Gerade noch die Kurve bekommen“
Er habe dann im Februar 2021 „gerade noch die Kurve“ zum Positiven bekommen – eben durch seine regelmäßigen Spaziergänge im Februar, März und April zwischen etwa 21 und 24. „Dadurch konnte ich diese Lebens- und Gesundheitsgefahren zunehmend lindern, vermeiden und letztendlich die Risiken ausräumen. Eine Suizidgefahr bestand schon nach wenigen Tagen nicht mehr, meine Stimmung wurde wieder fröhlich und zufrieden, mein Ess- und
Trinkverhalten regulierte sich nach und nach wieder auf ein gesundes Niveau und ich nahm innerhalb von zwei Monaten wieder 16 kg ab“, schrieb er der Stadtverwaltung im Juli 2021. Zu einer anderen Zeit habe er die Spaziergänge nicht machen können. Die Arbeitszeiten des Schlüssel-Notdienstleisters, sein Lebens-, Arbeits- sowie Biorhythmus hätten dagegen gesprochen. Er habe deshalb „die überlebenswichtigen Spaziergänge in der Regel erst zwischen 21 und 22 Uhr überhaupt unternehmen“ können.
Zusammengefasst: „… das seit Februar begonnene und auch während der Ausgangssperre vom 15. bis 23. April 2021 fortgesetzte Spazieren retteten meine Gesundheit und möglicherweise mein Leben“, argumentierte Albrecht.
Ob das ausreicht, den Bußgeldbescheid inklusive Verfahrenskosten abzuwenden? Das soll laut Albrecht – das Gericht hat die Verhandlung noch nicht bekanntgegeben – am kommenden Dienstag vom Rottweiler Amtsgericht entschieden werden.