Ruhrkampf, Geldentwertung, Extremismus: Schwere Krisen erschütterten 1923 die Weimarer Republik. In einer Serie geht die NRWZ der Frage nach, wie sich die Geschehnisse vor hundert Jahren in Rottweil auswirkten und wie sie wahrgenommen wurden. Lesen Sie hier Teil fünf: Das Krisenjahr im Spiegel lokaler Zeitungsannoncen.
Die „große Politik“ rückte den Rottweilern im Katastrophenjahr 1923 nah auf den Leib. Spätestens als Anfang Februar 1923 französische Truppen, die zusammen mit belgischem Militär im Januar bereits das Ruhrgebiet besetzt hatten, auch in Baden einmarschierten, war der Konflikt um ausstehende Reparationen fast vor der Haustür angekommen.
Anderes mag weiter entfernt gewirkt haben. Die versuchte Abspaltung einer „Rheinischen Republik“ im Oktober etwa oder der Putschversuch Hitlers in München im November 1923. Was die Menschen aber tagtäglich plagte, war die fortschreitende Geldentwertung. Das wird in den beiden Rottweiler Zeitungen vielfach deutlich. Es zeigte sich beispielsweise an einer Zuschrift des Vinzenz-Elisabeth-Vereins an den „Volksfreund“ vom 1. März 1923, in dem angesichts täglich steigender Not um Spenden für Arme und Kranke gebeten wurde – derlei Aufrufe zu Solidarität fanden sich in den Zeitungen alle paar Tage.
Was wir rückschauend als Hyperinflation bezeichnen, war freilich etwas anderes als die von hohen Energiekosten ausgelösten Preisschübe unserer Tage. Sie war keine bloße Teuerung, sondern eine rasende Enteignung von Millionen Rentnern, Sparern, Groß- und Kleinkapitalisten. Und sozusagen das nachgeholte wirtschaftliche Pendant zur militärischen Niederlage von 1918.
Schon am 26. März fasste der Volksfreund zusammen, dass es seit Jahresanfang zu „1000, 2000, ja 3000% Steigerung“ bei vielen Preisen gekommen sei. Im August 1923 kostete ein Pfund Fleisch eine Million, ein Meter Anzugstoff drei Millionen Mark. Der Romanist Victor Klemperer hat es mit einem Beispiel bildhaft festgehalten: Als er von Ostpreußen nach Dresden zurückfuhr, erlebte er bei einem Zwischenstopp in einem Bahnhofsrestaurant, wie der Preis für eine Tasse Kaffee einem Augenblick zum anderen von sechs- auf zwölftausend Mark hochschnellte.
Ähnliches erlebten auch die Rottweiler. Während die Zahlen auf dem Papiergeld immer mehr Nullen aufwiesen, für die man immer weniger kaufen konnte, behalf man sich, wo dies möglich war, mit Tauschwirtschaft. So bot der „Volksfreund“ seinen „Lesern vom Lande“ an, ihr Zeitungsabonnement auch mit Naturalien zu begleichen. Dabei wurden auch die Zeitungen teurer – und die Verleger jammerten über ihre Kosten und Lasten. So rechnete etwa der „Volksfreund“ unter der Überschrift „Sind die Zeitungen zu teuer?“ seinen Lesern schon am 30. Januar 1923 vor, dass sich Papier auf das 2700fache der Vorkriegszeit verteuert habe.
Von dieser Alltagsebene zeugen besonders die Annoncen in den beiden Rottweiler Zeitungen, dem zentrumsnahen „Rottweiler Volksfreund“ und der „Schwarzwälder Bürgerzeitung“ , dem in liberale Richtung geführte, von der Familie Rothschild herausgegebene Bezirksamtsblatt. In den ersten Wochen des Jahres sind die Werbespalten zwar nicht üppig gefüllt. Aber in beiden Blättern finden sich täglich bis zu einer Seite Anzeigen.
Da wird eine halbjährige Ziege in Zepfenhan feilgeboten und Abhilfe gegen Zahnweh ebenso versprochen wie gegen „Damenbärte“. Da wird nach einer „Guitarrenstunde“ gesucht und nach einem Fahrrad („auch ohne Bereifung“). Da macht im „Volksfreund“ ein Inserent einem „hübschem kath. Fräulein“ oder wahlweise einer Witwe Avancen und verspricht „sehr gute Zukunft durch Heirat“. Und in beiden Blättern wird ein „Amerikanischer Zirkussensationsfilm“ beworben, der viermal täglich über die Kino-Leinwand flimmert.
Auch öffentliche Verlautbarungen finden sich als Inserat. Etwa die Mitteilungen, wann die Kontingente immer noch rationierter Lebensmittel wie Zucker abgeholt werden können. Am 31. März 1923 ermutigte die Stadt via Anzeige, Entwürfe einzureichen für Kriegerdenkmale auf den Friedhöfen in Rottweil und der Altstadt, die Wiederherstellung des Markbrunnens sowie für eine Gedenktafel für die Weltkriegs-Gefallenen im Rathaus.
Schon im März jedoch sprechen die Anzeigen-Spalten immer mehr von Mangel. Die Annoncen sind, außer wenn die Zeitungen selber für das „Ruhr-Opfer“ werben, also für Spenden für die Menschen in den besetzten Gebieten. Viele Inserate sind klein, oft füllen sie keine halbe Seite.
Ausnahmen bilden Anzeigen, die für Überfahrten auf die andere Seite des Atlantiks werben – etwa für die Hamburger „Hapag“-Reederei oder die „White Star Line“, jene Schifffahrtsgesellschaft mit Sitz in Liverpool, die auch die 1911 auf ihrer Jungfernfahrt gesunkene „Titanic“ in Dienst hatte. Diese Annoncen lassen ahnen, dass 1923 viele angesichts der Not übers Auswandern nachdachten – und den lebensverändernden Schritt nicht selten auch wagten.
Der „Volksfreund“ griff das Thema am 15. März 1923 mit bitterem Unterton auf: „Der Ausreiseverkehr nach Amerika aus dem Schwarzwald ist ein sehr reger,“ berichtete das Blatt seinen Rottweiler Lesern „Aus einer ganzen Anzahl Orte unserer Heimat ziehen Volksgenossen über den großen Teich, um sich drüben im Lande der „unbegrenzten Möglichkeiten“ häuslich niederzulassen“, fuhr die Zeitung fort. „Die wirtschaftlichen Zustände unserer Heimat, verbunden mit einer gewissen politischen Depression, die auf Seele und Gemüt weitester Kreise lastet, muntern zur Ausreise an.“
Der „Volksfreund“ warnte jedoch vor überzogenen Erwartungen: „Tüchtige Handwerker können zweifellos in den USA ihr gutes Auskommen bekommen“, hieß es. Für andere Berufe sei die Sache schwieriger: „Geschenkt wird niemand etwas in Amerika. Nur tüchtige, arbeitsfreudige Leute können sich durchschlagen,“ erklärte das Blatt, dass den Exodus bedauerte, aber allen, die aufbrachen, Glück wünschte.
Restlos auf die alte Heimat verzichten mussten die Ausgewanderten zudem nicht. Denn beide Rottweiler Zeitungen konnte man auch im Ausland beziehen. So warb etwa der „Volksfreund“: „Wer in Holland, in der Schweiz oder in Amerika ist, lese sein Heimatblatt“, den „Volksfreund“. Er bekomme ihn spottbillig und wolle ihn schon nach Empfang der ersten Nummern nicht mehr missen, gab man sich überzeugt.
Deutlich verändert zeigen sich die Anzeigenspalten nach Einführung der Rentenmark, mit der ab Mitte November die Fieberkurve der Hyperinflation gebrochen wurde. Binnen kurzer Zeit finden sich deutlich mehr Annoncen in den Rottweiler Blättern. Rasch sind es sogar mehrere Seiten mit großen Inseraten, die Geschenke für das näher rückende Weihnachtsfest ins Blickfeld der Leser rückten.
Verschiedenste Güter wurden da offeriert: Textilien, Tabakwaren und sogar Pelze wurden in großen Lettern angepriesen. Paul Berger etwa listete „praktische Geschenke für Damen“ auf, die „gut u. billig“ in der Lorenzgasse 5 zu erwerben waren – von Trikothemden oder Gamaschen und Schürzen bis zu Jacquard-Decken.
Paul Graf aus Dunningen bot „erstklassige Damen- und Herren –Fahrräder“ samt Zubehör feil, Josef Neef aus Schramberg wusste zu berichten, dass eine Nähmaschine ein „schönes Weihnachtsgeschenk“ abgebe. Und die Rottweiler „Drogerie Tib. Neher“ empfahl als Präsent untern Christbaum „feine Liköre“.
Am Ende des krisengeschüttelten Jahres wirken die Anzeigenseiten, als sei ein Vorhang aufgegangen. Man hoffte in Rottweil und war sich zusehends sicher, dass, wie die „Bürgerzeitung“ am Silvestertag 1923 schrieb der „Wendepunkt“ zum Besseren erreicht sei.
Info: Dieser fünfte Teil bildet den vorläufigen Abschluss der NRWZ-Serie zum Krisenjahr 1923 in Rottweil.