Von der Bürgerinitiative für eine Welt ohne atomare Bedrohung kommt ein Offener Brief zum heutigen Tschernobyljahrestag an die Bürger Rottweils, die seit 35 Jahren die Projekte und Menschen in Belarus unterstützen. Wir bringen ihn im Wortlaut.
Offener Brief von Prof. Dr. Irina Gruschewaya an die Bürger Rottweils zum 26. April, dem Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
35 Jahre deutsch-belarussische Bürger-Partnerschaft
Liebe Bürger, Partner und Freunde in Rottweil!
35 Jahre schon besteht eine feste Brücke zwischen Rottweil und Belarus! Eine Brücke zwischen den Menschen in Rottweil und Menschen in Minsk, Luninetz, Brest. Es verbinden uns viele Tränen und viel Lachen, viel Freude und viel Trauer. Nicht nur für die Tschernobylopfer kam auf vielfältige Weise all die Jahre Hilfe, auch jetzt, in den schrecklichen Zeiten der politischen Unterdrückung und der Kriege, spüren wir die große und kontinuierliche Solidarität und die konkrete Unterstützung von den Bürgern aus Rottweil. Dafür danken wir Ihnen allen heute am 26.April, dem Jahrestag der Tschernobylkatastrophe.
Alles begann 1990, als unsere belarussische gemeinnützige Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ e.V. angesichts der Tschernobyl-Katastrophe die internationale Gemeinschaft um Hilfe rief. 72% der freigesetzten Radioaktivität aus dem havarierten Reaktor waren auf Belarus nieder gegangen, verseuchten unsere Gewässer, Wälder und Felder, Pflanzen und Früchte, Tiere und Menschen. Ein unsichtbarer Krieg, der viele Kranke, Tote, Flüchtlinge, zerstörtes Leben in unzähligen Dörfern und Städten verursachte. Heute, 39 Jahre danach, verläuft dieser Krieg im Knochenmark der Menschen weiter. Auch diejenigen sind betroffen, die Jahre später geboren wurden. Das Erbgut wurde für Generationen geschädigt.
Unser Hilferuf damals wurde in Ihrer Stadt gehört. Von besorgten und tatkräftigen Bürgern, allen voran von der 1986 gegründeten „Bürgerinitiative für eine Welt ohne atomare Bedrohung“ unter der Leitung von Angela Gessler. Unser erstes Treffen 1990 war der Beginn einer bis heute andauernden intensiven und vielfältigen Zusammenarbeit und wunderbaren Freundschaft über die Grenzen hinweg. Viele Jahre kamen „Tschernobylkinder“ aus der belarussischen Stadt Luninetz nach Rottweil zur Erholung, insgesamt mehr als 400 Kinder. Es entstand in Rottweil ein großes Netzwerk der Hilfe. Eine beispiellose Willkommenskultur, gemeinsame Freude und Freundschaften! Der Aufenthalt der Kinder in Rottweil, bei denen sie nicht nur frische Luft, gesundes Essen und Zuwendung tankten, war für uns alle – für die Kinder, deren Familien, unsere Stiftung – ein wichtiger Hoffnungsschimmer. Hoffnung auf ein aktives und gesundes Leben.
Neben den Kindererholungen wurden noch unzählige weitere gemeinsame Projekte ins Leben gerufen. Die engagierte Bürgerinitiative führte mit Jugendlichen aus Belarus und Rottweil internationale „Zukunftswerkstätten“ zu den Themen Ökologie, Erneuerbare Energien, Menschenrechte durch. Ein Theaterstück auf Belarussisch und Deutsch wurde in Zusammenarbeit mit dem Zimmertheater einstudiert und aufgeführt. Behinderte und diabeteskranke Tschernobyl- Kinder bekamen viele Jahre in Rottweil medizinische Hilfe und wichtige Schulungen und Unterstützung, die weiter wirken und uns heute noch Hilfe leisten. Die schwerbehinderte Olga ist eine von ihnen, sie wurde als junges Mädchen in Rottweil operiert und arbeitet heute als Ärztin in Luninetz. Noch heute führen unsere Ehrenamtlichen in Belarus mit Erfolg Diabetesschulungen nach dem Vorbild von Rottweil durch, das wir bei Ihnen kennen lernen durften. Unterstützung gab es aus Rottweil auch für unseren „Altenclub“ und die „Armenküche“ für die mittellosen Umsiedler aus den hochverstrahlten Gebieten, für unseren Kindergärten für behinderte Kinder, für Mädchen im Gefängnis in Gomel und für noch viele weitere soziale Projekte in Luninetz und Minsk. Es ist unmöglich, den ganzen Kreis aller Aktivitäten aufzuzählen. In allem wird die Bürgerinitiative von vielen Rottweiler Vereinen und Privatpersonen tatkräftig und mit großem Einsatz durch Geldspenden und Sachspenden und durch ganz konkrete Hilfe unterstützt.
Viele dieser Rottweiler Engagierten besuchten uns und unsere Hilfsprojekte in Belarus: Vertreter der Stadt und den unterstützenden Vereine, wie das Rottweiler DRK, die Selbsthilfegruppe für diabetische Kinder, Rottweiler Frauengruppen, viele Gasteltern und jedes Jahr die Engagierten der Bürgerinitiative. Alle sind bei uns immer willkommene Gäste in Minsk, Brest und Luninetz und werden herzlich und voll Freude empfangen.
In allen Begegnungen merken wir nicht nur ein waches Auge und ein offenes Herz für unsere Sorgen und tiefes Mitgefühl mit den Notleidenden, sondern immer auch die Offenheit und Bereitschaft und unglaubliche Kreativität um Neues und Nachhaltiges zu wagen. Seien es die Briefe an die politischen Gefangenen, Lesungen mit belarussische Autoren, die Unterstützung der ins Exil vertriebenen Belarussen und ganz aktuell die Ausstellung über den Friedensnobelträger Ales Bialiatski.
Dass die Verbindungen zwischen den Bürgern von Rottweil, Luninetz und Minsk so lange andauernd und so stark und intensiv sind, das lässt unsere oft dunkle Welt hoffnungsvoller und heller erscheinen. Die Stadt Rottweil ist für uns ein ganz besonderer Ort, in dem die Menschenrechte geachtet und Widerstand gegen das Unrecht geleistet wird und die europäischen und demokratischen Werte der Menschlichkeit, Zuwendung und Solidarität durch viele Menschen gelebt werden. Rottweil mit seinen tollen Bürgern ist für uns eine Kraft – und Inspirationsquelle!
Ich danke Ihnen allen im Namen unserer belarussischen Aktiven und allen, die von Ihnen in Luninetz, Minsk und Brest von Ihnen so breite Unterstützung erfahren haben, von ganzem Herzen!
In tiefer Freundschaft
Prof. Dr. Irina Gruschewaya
Internationaler Rat „Zukunft den Kindern von Tschernobyl“
Bildergalerie
Einige Fotos vom aktuellen Projekt „Ausstellung Ales Bialiatski mit Rahmenprogramm (belarussicher Kulturabend und Eröffnung). Außerdem Bilder von der vielen Rottweiler Reisegruppen, die inzwischen in Belarus bei den Partnern waren (Orthodoxe Kirche in Luninetz und Treffen mit den belarussischen Partnern). Fotos: privat / Thomas Decker





