Deutsch-Schweizer Literaturtage: „Rottweil, Liebling!“

Mit Vierzig wird der Schwabe „gescheit“, heißt es. Auch wenn nicht jeder Einzelfall dies bestätigen mag: Die 41. Deutsch-Schweizer Literaturtage, die als „Rottweiler Begegnungen“ nach der Jubiläums-Ausgabe im Vorjahr in Brugg heuer wieder am Neckar stattfanden, spricht für die Reife-Regel. Der Abschluss, zu dem von den Gästen traditionell Kurztexte zu Rottweil erbeten werden, war jedenfalls eine Freude.
Den Auftakt in der Werkhalle auf der Hauser-Saline machte der preisgekrönte Autor und Lyriker Dinçer Güçyeter. Er ließ mit einem weichen, fließenden Sound unmittelbar aufhorchen. Angeregt von Begegnungen mit Rottweiler Schülern formulierte er eine Antwort auf das Rilke-Gedicht mit dem berühmten, in einen Käfig gepferchten Panther – und packte darin Erfahrungen einer postmigrantischen Perspektive. So ermutigte Güçyeter, „über das Gitter“ zu schauen, über „die gesponserte Lüge im Lebenslauf“ – letztlich ein Appell, sich anders als Rilkes Panther aus den Zwängen von Selbst- und Fremdzuschreibungen zu befreien.
Ebenfalls zerbrechliche Töne schlug die Berliner Autorin Elsa Koester an, die auf Rottweil mit Neugier und Sympathie, zugleich aber durch die Brille ihrer Erfahrungen im zum Rechtspopulismus gedrifteten Osten blickte. Sie fand schöne Bilder für die Stadt, die eine „Grenzstadt“ am „Rand des Schwarzwalds, fast schon Schweiz“ sei – mündend freilich in der Frage, ob sie eine „blaue Stadt“ sein wolle und auf welche Zukunft sie ziele.

Nach der so entstandenen Beklommenheit setzte der in Bern lebende Matto Kämpf einen befreiend humoristischen Kontrapunkt. Wobei einem das Lachen auch im Halse stecken bleiben konnte, denn Kempf hatte das Dichten an eine KI delegiert, deren Antworten auf die Frage nach einem Text über Rottweil im Stile von Martin Suter, Thomas Bernhard, und Shakespeare er verlas. Die Angebote waren einerseits erwartbar klischeehaft, andererseits aber so valide, dass man sich zwar über die Sutter-Süße, die Zerquältheit Bernhards und die Shakespeare-Eloge freuen konnte – andererseits aber einmal mehr ins Grübeln kam, was nach dem KI-Sturm zu denken wohl noch übrig bleibt.
Eine besonders schöne Pointe gelang allerdings mit der Anfrage nach Marylin Monroe. „Rottweil, honey“, also „Rottweil, Liebling!“, hieß die KI Kämpf darauf schmachten, und schwärmte vom Testturm als „längstem Wimpernschlag der Welt“, funkelnd „wie ein Glitzerkleid im Rampenlicht“. Da fehlte wirklich nur noch die Tanzeinlage über Heißluftabfuhr.
Die gleichfalls in Bern lebende Meral Kureshy nahm die Zuhörer mit in einen lyrisch ausschwingenden, bilderreichen Assoziationstext über Rottweil. Der begann mit Weihwasser im Münster, mündete letztlich jedoch in eine große Entgegensetzung von Idylle hier und dem Leid von Kriegen und Elend andernorts.

Der in Zürich lebende Drehbuchautor und Filmregisseur Micha Lewinski las den Stadtbrunnen mit seinen Allegorien auf die Laster als eine Art „Post it mit dont’s“, gleichsam eine Art Pinnwand mit lebenspraktischen Hinweisen, die beim täglichen Wasserholen vor Sünden warnen. Augenzwinkernd schlug er dabei den Bogen zur Aufforderung an die Autorinnen und Autoren, einen Text über Rottweil zu schreiben – also dem Städtle einen Spiegel vorzuhalten, wie ihn just die Brunnen-Figur der Hoffart trägt.
Den Text der Graubündnerin Lea Catrina, die vorzeitig abreisen musste, trug Jane Frank vor. Catrine schilderte darin ihr Rottweil-Erlebnis aus der Innenschau als fast surreale Erfahrung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Daran knüpfte die in Köln lebende Nora Schramm an. Sie erzählte, dass ihre Wahrnehmung von Rottweil durchgehend damit verbunden war, dass sie bei der Anreise von Larry Walters gehört hatte – einem schrägen Vogel, der 1982 mit einem Gartenstuhl, der an heliumgefüllten Wetterballons hing, einen Dreiviertelstunden-Flug unternommen hatte. In Schramms Augen war „Loan Chair Larry“ in Rottweil durchweg dabei, was zu munteren Vorbeiflug-Bildern führte – und zur Einladung an alle, sich ein Flugobjekt zu bauen, und die Seile zum leidigen Alltag abzuschneiden.

Einen charmanten Schlusspunkt setzte der deutsch-spanische Lyriker und Essayist José F.A. Oliver, der mit einem Rottweiler Esel in Miniatur die Herzen höher schlagen ließ. In elegant um die Zeilen-Ecken biegenden Versen lenkte er den Blick auf in Rottweil von „aus Not und Lust verrammelten Fenstern“ und darauf, dass „Hoffnung stets ein zu renovierendes Haus“ sei – und endete mit der vieldeutigen Formulierung: „Das Gedicht ist – ein Narrensprung“, was ihm besonders gut gelaunten Beifall einbrachte.