Tribunal von „Rheinmetall Entwaffnen“: Heckler und Koch auf der Anklagebank

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Ein Tribunal haben sie angekündigt, eine Anklage gegen Heckler und Koch, die Waffenindustrie, aber auch gegen die Politik. Im Rahmen ihrer Blockadeaktion in Oberndorf hatte die Gruppe Rhein-Main von „Rheinmetall Entwaffnen“ dazu aufgerufen. Mit einem Bus waren die Demonstranten angereist, doch auf den letzten Metern gibt es Stress mit der Polizei: Die lässt den Bus nicht bis zum Werkstor an der Heckler und Koch-Straße durch. Drum steht der Bus auf dem Kreisverkehr und blockiert den Verkehr.

Nach einigem Hin und Her entschließen sich die Aktivisten, die mitgebrachten Tische und Stühle, Lautsprecheranlage und Stromgenerator die hundert Meter hoch zutragen.

Ziemlich ungemütlich

Um die 100 Rüstungsgegner stehen oder sitzen gegen zehn Uhr vor dem Haupttor von Heckler und Koch auf dem Lindenhof. Sie halten Transparente vor sich, schwenken Fahnen, plaudern miteinander. Alles ganz friedlich. Auf dem Werksgelände stehen Polizeibeamte und Hundeführer. Am Werkszaun hatte der Werkschutz in den letzten Tagen noch Rollen mit NATO-Draht befestigt.

Auf Beobachtungsposten.

„Keine Ahnung, was die glauben, was wir machen“, kommentiert ein junger Demonstrant, der aus Stuttgart gekommen ist. „Ich will nicht wissen, was der Einsatz kostet.“ Am frühen Morgen sei ein Polizeihubschrauber drei Stunden lang über dem Gelände gekreist. Es ist neblig, der Himmel verhangen, und die Herbstkälte zieht an. Eine Frau schlüpft in dickere Wollsocken, einige Friedensaktivisten wickeln sich in ihre Transparente.

Blockade ein Erfolg?

Lisa Mendel ist für die Pressearbeit bei „Rheinmetall Entwaffnen“ zuständig. Sie ist sehr zufrieden: „Alle Schotten sind dicht“, versichert sie, „die Parkplätze sind leer.“ Etwa 100 Demonstranten seien es bislang, „aber es kommen noch mehr“. Sie ist überzeugt, dass sowohl bei Rheinmetall-Mauser im Tal als auch hier oben die Produktion ausfalle. „Und das wollten wir ja erreichen.“

Lisa Mendel

Wenige Schritte entfernt steht der Pressesprecher von Heckler und Koch, Marco Seliger. Er winkt ab: „Die Frühschicht läuft ganz normal.“  Es gebe Wege, auf denen die Kollegen an den Blockaden vorbei ins Werk gekommen seien. Wie, will er nicht verraten.

Das Tribunal soll eigentlich um 10 Uhr vor dem Haupttor von Heckler und Koch beginnen. Doch es sind noch Demonstranten unterwegs, berichtet Cora Mohr aus Frankfurt. Die Polizei kontrolliere die Personalien. Auch sie ist überzeugt von Erfolg der Blockade: “Beide Konzerne sind heute lahmgelegt.“

Um 10.15 Uhr kommt eine der Organisatorinnen ans Mikro. Die Zapatistas seien auf der Anfahrt von Nürnberg. Auch sie freut sich, dass anscheinend niemand zur Arbeit erschienen sei. Einzig die Polizei und Sicherheitsleute seien auf den Werksgeländen. „Wir wollen heute Heckler und Koch und die Waffenindustrie auf die Anklagebank setzen.“ Sie berichtet von einem verletzten Demonstranten. Er soll von einem Polizeibeamten einen Schlag aufs Auge abbekommen haben und sei im Krankenhaus genäht worden, berichtet ein anderer und zeigt ein Foto auf Twitter. Ein Polizeisprecher will den Vorfall später nicht bestätigen. „Es liegt uns bisher auch keine Anzeige dazu vor.“

Prozess nur mit Ankläger

Nach weiteren zehn Minuten beginnt das „Tribunal“: Ein junger Mann ist der Ankläger. Bevor er seine auf vielen Seiten ausformulierte Anklage vorträgt, singen zwei Frauen, begleitet von einer Querflöte und einer Klarinette, ein Lied. Der Text ist nicht zu verstehen.

Die Musikanten

„Heckler und Koch ist verantwortlich für den Tod tausender Menschen, für Folter und Unterdrückung“, lautet die Anklage. Deutschland gehöre zu den Top-3- Nationen beim Export von Kleinwaffen. Die Ausfuhrbeschränkungen würden systematisch und  trickreich umgangen. So exportierten die drei deutschen Hersteller Heckler und Koch, Sig-Sauer und Walther ihre Waffen beispielsweise in die USA, von wo sie überallhin verkauft werden könnten.

Der Ankläger verliest die Anklage

Was die laxen Endverbleibserklärungen brächten, habe man beim Mexikoprozess gesehen. Der Kläger erinnert an die G-3-Lizenzen aus den 60er Jahren und nennt als Beispiel Walther-Pistolen, die in Kolumbien gelandet seien, aber für Tschechien bestimmt waren.

Waffentradition und Zwangsarbeit

Oberndorf sei seit 200 Jahren von der Waffenindustrie geprägt, so der Ankläger. Besondere Verbrechen habe das NS-Regime hier mit den Zwangsarbeitern begangen. Als Zeuge  kommt Lothar Eberhardt ans Mikrofon. Er berichtet, dass von den etwa 12.000 Mauserarbeitern im Zweiten Weltkrieg etwa die Hälfte Zwangsarbeiter waren. Mauser war damals d i e deutsche Gewehrfabrik und gehört heute zu Rheinmetall.

„Das Polenlager war hier auf diesem Gelände“, sagt Eberhardt und weist hinter sich. Im früheren Lager des Reichsarbeitsdienstes hätten 2000 polnische Zwangsarbeiter hinter Stacheldraht gelebt. Auch die Russen seien eingesperrt gewesen, während es Holländern und Franzosen  als „Arierähnlichen“ deutlich besser ging.

Lothar Eberhardt

Das Oberndorfer Standesamt habe von Mauser die Listen der Zwangsarbeiter erhalten. Als es dann um Entschädigungszahlungen nach 1990 ging, hätten die noch lebenden Zwangsarbeiter Einmalzahlungen erhalten. Etwa 380 Menschen sind laut Eberhardt als Zwangsarbeiter in Oberndorf umgekommen.

HK-Gewehre in aller Welt

Als nächste Zeugin berichtet Cora Mohr über die Firmengeschichte von Heckler und Koch. Drei ehemalige Ingenieure von Mauser hatten das Unternehmen 1949 gegründet. Alle drei hätten vom NS-Regime profitiert, Edmund Heckler besonders. Er leitete eine Munitionsfabrik in Thüringen, in der Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden.

Cora Mohr

Anfangs hätte die Firma – von den Alliierten gezwungen – Nähmaschinen gebaut.

Doch schon 1951 begann das Werk offiziell wieder mit der Gewehrproduktion für den damaligen Bundesgrenzschutz. 1959 wurde das G3 das Standardgewehr der Bundeswehr. Nachbau-Lizenzen habe die damalige Bundesregierung unter anderem an das damals faschistische Portugal verkauft, das die Waffen in seinen afrikanischen Kolonien eingesetzt habe.

Saudi-Arabien habe Lizenzgewehre nach Asien, Afrika und Südamerika verkauft. In den 70er-Jahren habe der Diktator Idi Amin in Uganda 300.000 Menschen mit dem Gewehr massakrieren lassen. Mohr bringt weitere Beispiele aus Thailand, Brasilien, Indonesien und Belarus. Die „Grüne Länder-Strategie“ von Heckler und Koch sei „reiner Hohn“, solange Saudi-Arabien beliefert werde und Frontex mit HK-Waffen „Krieg gegen Flüchtlinge“ führe. Das Unternehmen verfüge über beste Verbindungen in die Politik. Das zeige, dass der ehemalige Bundeswehrgeneral Harald Kujat „einen Sitz im Vorstand von HK“ hatte. (Kujat war tatsächlich kurze Zeit Aufsichtsratsvorsitzender.)

Mohr appelliert an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, den öffentlichen Druck hochzuhalten: „Jeder Tag, an dem wir es geschafft haben, die Produktion zu blockieren, ist ein guter Tag“, erklärt sie unter dem Beifall der Zuhörer.

Ein kalter Wind weht.

HK: Wer, wenn nicht wir?

HK-Sprecher Seliger betont am Rande der Versammlung im Gespräch mit der NRWZ, das Unternehmen sei sich bei Handfeuerwaffen seiner Verantwortung bewusst. „Die sind einfach leichter zu verbreiten als ein Kampfpanzer oder ein U-Boot.“ Die Grüne-Länder-Strategie, nur noch in EU-Länder und NATO-Staaten und denen ähnliche Länder  zu liefern, gelte für alle Sicherheitskräfte, nicht nur für das Militär.

Er versichert, laut Bilanz 2020 habe HK „weniger als zwei Prozent des Umsatzes mit Drittländern“ erwirtschaftet. Und dennoch habe HK 13 Millionen Euro Gewinn gemacht. Das zeige doch, dass „Profitabilität und Grüne Länder-Strategie funktioniert“. Seliger fragt, wer denn die Waffen für die deutschen Sicherheitskräfte herstellen solle? Ein Unternehmen wie seines, das deutschen Gesetzen unterliege, oder eine ausländische Firma, die ohne jede Kontrolle in alle Länder exportiere?

Grässlin und das Versagen der Justiz

Der nächste Zeuge ist Jürgen Grässlin, er ist telefonisch zugeschaltet. Der HK-Kenner und -Kritiker berichtet von seinen Recherchen zu illegalen G 36-Exporten nach Mexiko, dem jahrelangen Ermittlungsverfahren, an dem die Stuttgarter Staatsanwaltschaft nie wirklich interessiert gewesen seien: „Wir mussten die zum Jagen tragen.“ Da sei der öffentliche Druck, auch dank zweier ARD-Themenabende, so stark gewesen, dass 2015 Anklage erhoben wurde. Bedauerlicherweise nur gegen Mitarbeiter von Heckler und Koch, nicht aber gegen Beamte der zuständigen Behörden und des Wirtschaftsministeriums.

Der Umgang mit den Opfern vor und im Prozess sei „eine Schande für die Justiz“, so Grässlin. Nach dem Urteil  müssten die Manager der Rüstungsfirmen aber vorsichtiger sein. Die Botschaft laute: “Illegaler Handel wird hart sanktioniert.“

Gelegentlich scheint die Sonne durch die Nebelsuppe. Die Zuhörer harren geduldig aus, einige drehen sich Zigaretten, andere holen sich am Verpflegungstisch belegte Brötchen oder einen Kaffee, um sich innerlich etwas aufzuwärmen.

Mexiko: Überflutet von Gewalt

Nach dem Stichwort Mexiko befragt der Ankläger nun Felicitas Treue. Die Psychologin aus dem Großraum Frankfurt arbeitete für einen Friedensdienst einige Jahre in Mexiko mit Folteropfern. Sie schildert die katastrophale Sicherheitslage in dem mittelamerikanischen Land, in dem kriminelle Kartelle, die Polizei, das Militär und Politiker gegen die Interessen der Bevölkerung „Hand in Hand arbeiten“.

Mit Drogenhandel, Entführungen, Menschenhandel und Prostitution verdienten die Kartelle enorme Summen. Verbrecher würden kaum verfolgt, Mörder und Folterer blieben fast immer straffrei. „Die mexikanische Gesellschaft wird überflutet von Gewalt“, so Treue. Sie wies auch auf die hohe Zahl von Femiziden in Mexiko hin: „Jeden Tag werden zehn Frauen ermordet.“ Auch für die Folterungen seien die Waffenhersteller mitverantwortlich. Viele Frauen in Mexiko organisierten sich inzwischen. Ihr Ziel: „Die Gewalt stoppen und unsere Rechte als Frauen erobern.“

Zapatistas: Wir leiden unter diesen Waffen

Die Gruppe der Zapatisten hat inzwischen zwei Stunden Kälte und Reden ausgehalten. Aus Sicherheitsgründen sollen wir sie nicht fotografieren, bittet uns das Presseteam. Der Ankläger des Tribunals ruft nun zwei Vertreter des Congreso Nacional Indigena nach vorn. Zunächst spricht eine junge Frau, nennen wir sie Maria. Sie stünden vor dieser Fabrik, denn ihr Volk würde mit geschmuggelten Waffen aus dieser Fabrik „mit Gewalt  von unserem Land und aus unserer Region vertrieben“.

„Carlos“ versichert: „Die Menschen in unseren Dörfern haben unter diesen Waffen sehr gelitten.“ Wenn doch der Handel mit diesen Gewehren verboten sei, wie gelangten sie dennoch dahin? Er fragt: „Ist die Regierung hier korrupt – oder wie kann das sein?“ Heftig beklatscht und von Rufen wie „Hoch die internationale Solidarität“ begleitet, kehren Maria und Carlos zu ihrer Gruppe zurück.

Der Ankläger verkündet, nun seien alle Zeugen und Expertinnen gehört. Von seinem Script liest er ab: Es sei deutlich geworden, dass Heckler und Koch in allen Anklagepunkten zu verurteilen sei. Die Menschen würden das Urteil umsetzen „in Form einer Welt ohne Kriege und einer Welt, in der viele Welten Platz haben.“

Demo-Nachspiel

Aber damit ist das Tribunal noch nicht zu Ende. Ein weiterer Pressesprecher meldet sich. Das Auto mit den Pressematerialien sei von der Polizei durchsucht worden. Die Polizei habe „alle Geräte und Speichermedien geklaut“. (Dem Polizeisprecher ist um die Mittagszeit „der Vorfall nicht bekannt“.) Mit der Ankündigung, „wir werden nicht ruhig sein und nicht zurückweichen“, endet schließlich nach zweieinhalb Stunden das „Tribunal“.

Eine Aktivistin kündigt an, die Demonstration gehe nun weiter zum Bahnhof. Das ist wohl recht spontan. Angekündigt oder gar angemeldet war das nicht. Doch die Behörden bewilligen den Zug vom Lindenhof runter in die Stadt. Die Sonne wird  kräftiger, die Zuhörerinnen erheben sich. „Wenn jeder von Euch einen Stuhl mitnimmt“, gibt es eine letzte Durchsage, “dann müssen wir nicht so viele schleppen.“

Der Demonstrationszug stellt sich auf.

Bei der Demonstration vom Lindenhof einige Kilometer hinunter in die Stadt kommt es gelegentlich zu Rangeleien mit der Polizei. Nachdem sie so lange in der Kälte ausharren mussten, scheinen beide Seiten ein wenig das Bedürfnis nach Reibungswärme gehabt zu haben. In Bussen fahren die Arbeiter der Frühschicht am Demonstrationszug vorbei, meldet die Lokalzeitung.

Das interessiert diese Woche



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Ein Tribunal haben sie angekündigt, eine Anklage gegen Heckler und Koch, die Waffenindustrie, aber auch gegen die Politik. Im Rahmen ihrer Blockadeaktion in Oberndorf hatte die Gruppe Rhein-Main von „Rheinmetall Entwaffnen“ dazu aufgerufen. Mit einem Bus waren die Demonstranten angereist, doch auf den letzten Metern gibt es Stress mit der Polizei: Die lässt den Bus nicht bis zum Werkstor an der Heckler und Koch-Straße durch. Drum steht der Bus auf dem Kreisverkehr und blockiert den Verkehr.

Nach einigem Hin und Her entschließen sich die Aktivisten, die mitgebrachten Tische und Stühle, Lautsprecheranlage und Stromgenerator die hundert Meter hoch zutragen.

Ziemlich ungemütlich

Um die 100 Rüstungsgegner stehen oder sitzen gegen zehn Uhr vor dem Haupttor von Heckler und Koch auf dem Lindenhof. Sie halten Transparente vor sich, schwenken Fahnen, plaudern miteinander. Alles ganz friedlich. Auf dem Werksgelände stehen Polizeibeamte und Hundeführer. Am Werkszaun hatte der Werkschutz in den letzten Tagen noch Rollen mit NATO-Draht befestigt.

Auf Beobachtungsposten.

„Keine Ahnung, was die glauben, was wir machen“, kommentiert ein junger Demonstrant, der aus Stuttgart gekommen ist. „Ich will nicht wissen, was der Einsatz kostet.“ Am frühen Morgen sei ein Polizeihubschrauber drei Stunden lang über dem Gelände gekreist. Es ist neblig, der Himmel verhangen, und die Herbstkälte zieht an. Eine Frau schlüpft in dickere Wollsocken, einige Friedensaktivisten wickeln sich in ihre Transparente.

Blockade ein Erfolg?

Lisa Mendel ist für die Pressearbeit bei „Rheinmetall Entwaffnen“ zuständig. Sie ist sehr zufrieden: „Alle Schotten sind dicht“, versichert sie, „die Parkplätze sind leer.“ Etwa 100 Demonstranten seien es bislang, „aber es kommen noch mehr“. Sie ist überzeugt, dass sowohl bei Rheinmetall-Mauser im Tal als auch hier oben die Produktion ausfalle. „Und das wollten wir ja erreichen.“

Lisa Mendel

Wenige Schritte entfernt steht der Pressesprecher von Heckler und Koch, Marco Seliger. Er winkt ab: „Die Frühschicht läuft ganz normal.“  Es gebe Wege, auf denen die Kollegen an den Blockaden vorbei ins Werk gekommen seien. Wie, will er nicht verraten.

Das Tribunal soll eigentlich um 10 Uhr vor dem Haupttor von Heckler und Koch beginnen. Doch es sind noch Demonstranten unterwegs, berichtet Cora Mohr aus Frankfurt. Die Polizei kontrolliere die Personalien. Auch sie ist überzeugt von Erfolg der Blockade: “Beide Konzerne sind heute lahmgelegt.“

Um 10.15 Uhr kommt eine der Organisatorinnen ans Mikro. Die Zapatistas seien auf der Anfahrt von Nürnberg. Auch sie freut sich, dass anscheinend niemand zur Arbeit erschienen sei. Einzig die Polizei und Sicherheitsleute seien auf den Werksgeländen. „Wir wollen heute Heckler und Koch und die Waffenindustrie auf die Anklagebank setzen.“ Sie berichtet von einem verletzten Demonstranten. Er soll von einem Polizeibeamten einen Schlag aufs Auge abbekommen haben und sei im Krankenhaus genäht worden, berichtet ein anderer und zeigt ein Foto auf Twitter. Ein Polizeisprecher will den Vorfall später nicht bestätigen. „Es liegt uns bisher auch keine Anzeige dazu vor.“

Prozess nur mit Ankläger

Nach weiteren zehn Minuten beginnt das „Tribunal“: Ein junger Mann ist der Ankläger. Bevor er seine auf vielen Seiten ausformulierte Anklage vorträgt, singen zwei Frauen, begleitet von einer Querflöte und einer Klarinette, ein Lied. Der Text ist nicht zu verstehen.

Die Musikanten

„Heckler und Koch ist verantwortlich für den Tod tausender Menschen, für Folter und Unterdrückung“, lautet die Anklage. Deutschland gehöre zu den Top-3- Nationen beim Export von Kleinwaffen. Die Ausfuhrbeschränkungen würden systematisch und  trickreich umgangen. So exportierten die drei deutschen Hersteller Heckler und Koch, Sig-Sauer und Walther ihre Waffen beispielsweise in die USA, von wo sie überallhin verkauft werden könnten.

Der Ankläger verliest die Anklage

Was die laxen Endverbleibserklärungen brächten, habe man beim Mexikoprozess gesehen. Der Kläger erinnert an die G-3-Lizenzen aus den 60er Jahren und nennt als Beispiel Walther-Pistolen, die in Kolumbien gelandet seien, aber für Tschechien bestimmt waren.

Waffentradition und Zwangsarbeit

Oberndorf sei seit 200 Jahren von der Waffenindustrie geprägt, so der Ankläger. Besondere Verbrechen habe das NS-Regime hier mit den Zwangsarbeitern begangen. Als Zeuge  kommt Lothar Eberhardt ans Mikrofon. Er berichtet, dass von den etwa 12.000 Mauserarbeitern im Zweiten Weltkrieg etwa die Hälfte Zwangsarbeiter waren. Mauser war damals d i e deutsche Gewehrfabrik und gehört heute zu Rheinmetall.

„Das Polenlager war hier auf diesem Gelände“, sagt Eberhardt und weist hinter sich. Im früheren Lager des Reichsarbeitsdienstes hätten 2000 polnische Zwangsarbeiter hinter Stacheldraht gelebt. Auch die Russen seien eingesperrt gewesen, während es Holländern und Franzosen  als „Arierähnlichen“ deutlich besser ging.

Lothar Eberhardt

Das Oberndorfer Standesamt habe von Mauser die Listen der Zwangsarbeiter erhalten. Als es dann um Entschädigungszahlungen nach 1990 ging, hätten die noch lebenden Zwangsarbeiter Einmalzahlungen erhalten. Etwa 380 Menschen sind laut Eberhardt als Zwangsarbeiter in Oberndorf umgekommen.

HK-Gewehre in aller Welt

Als nächste Zeugin berichtet Cora Mohr über die Firmengeschichte von Heckler und Koch. Drei ehemalige Ingenieure von Mauser hatten das Unternehmen 1949 gegründet. Alle drei hätten vom NS-Regime profitiert, Edmund Heckler besonders. Er leitete eine Munitionsfabrik in Thüringen, in der Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden.

Cora Mohr

Anfangs hätte die Firma – von den Alliierten gezwungen – Nähmaschinen gebaut.

Doch schon 1951 begann das Werk offiziell wieder mit der Gewehrproduktion für den damaligen Bundesgrenzschutz. 1959 wurde das G3 das Standardgewehr der Bundeswehr. Nachbau-Lizenzen habe die damalige Bundesregierung unter anderem an das damals faschistische Portugal verkauft, das die Waffen in seinen afrikanischen Kolonien eingesetzt habe.

Saudi-Arabien habe Lizenzgewehre nach Asien, Afrika und Südamerika verkauft. In den 70er-Jahren habe der Diktator Idi Amin in Uganda 300.000 Menschen mit dem Gewehr massakrieren lassen. Mohr bringt weitere Beispiele aus Thailand, Brasilien, Indonesien und Belarus. Die „Grüne Länder-Strategie“ von Heckler und Koch sei „reiner Hohn“, solange Saudi-Arabien beliefert werde und Frontex mit HK-Waffen „Krieg gegen Flüchtlinge“ führe. Das Unternehmen verfüge über beste Verbindungen in die Politik. Das zeige, dass der ehemalige Bundeswehrgeneral Harald Kujat „einen Sitz im Vorstand von HK“ hatte. (Kujat war tatsächlich kurze Zeit Aufsichtsratsvorsitzender.)

Mohr appelliert an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, den öffentlichen Druck hochzuhalten: „Jeder Tag, an dem wir es geschafft haben, die Produktion zu blockieren, ist ein guter Tag“, erklärt sie unter dem Beifall der Zuhörer.

Ein kalter Wind weht.

HK: Wer, wenn nicht wir?

HK-Sprecher Seliger betont am Rande der Versammlung im Gespräch mit der NRWZ, das Unternehmen sei sich bei Handfeuerwaffen seiner Verantwortung bewusst. „Die sind einfach leichter zu verbreiten als ein Kampfpanzer oder ein U-Boot.“ Die Grüne-Länder-Strategie, nur noch in EU-Länder und NATO-Staaten und denen ähnliche Länder  zu liefern, gelte für alle Sicherheitskräfte, nicht nur für das Militär.

Er versichert, laut Bilanz 2020 habe HK „weniger als zwei Prozent des Umsatzes mit Drittländern“ erwirtschaftet. Und dennoch habe HK 13 Millionen Euro Gewinn gemacht. Das zeige doch, dass „Profitabilität und Grüne Länder-Strategie funktioniert“. Seliger fragt, wer denn die Waffen für die deutschen Sicherheitskräfte herstellen solle? Ein Unternehmen wie seines, das deutschen Gesetzen unterliege, oder eine ausländische Firma, die ohne jede Kontrolle in alle Länder exportiere?

Grässlin und das Versagen der Justiz

Der nächste Zeuge ist Jürgen Grässlin, er ist telefonisch zugeschaltet. Der HK-Kenner und -Kritiker berichtet von seinen Recherchen zu illegalen G 36-Exporten nach Mexiko, dem jahrelangen Ermittlungsverfahren, an dem die Stuttgarter Staatsanwaltschaft nie wirklich interessiert gewesen seien: „Wir mussten die zum Jagen tragen.“ Da sei der öffentliche Druck, auch dank zweier ARD-Themenabende, so stark gewesen, dass 2015 Anklage erhoben wurde. Bedauerlicherweise nur gegen Mitarbeiter von Heckler und Koch, nicht aber gegen Beamte der zuständigen Behörden und des Wirtschaftsministeriums.

Der Umgang mit den Opfern vor und im Prozess sei „eine Schande für die Justiz“, so Grässlin. Nach dem Urteil  müssten die Manager der Rüstungsfirmen aber vorsichtiger sein. Die Botschaft laute: “Illegaler Handel wird hart sanktioniert.“

Gelegentlich scheint die Sonne durch die Nebelsuppe. Die Zuhörer harren geduldig aus, einige drehen sich Zigaretten, andere holen sich am Verpflegungstisch belegte Brötchen oder einen Kaffee, um sich innerlich etwas aufzuwärmen.

Mexiko: Überflutet von Gewalt

Nach dem Stichwort Mexiko befragt der Ankläger nun Felicitas Treue. Die Psychologin aus dem Großraum Frankfurt arbeitete für einen Friedensdienst einige Jahre in Mexiko mit Folteropfern. Sie schildert die katastrophale Sicherheitslage in dem mittelamerikanischen Land, in dem kriminelle Kartelle, die Polizei, das Militär und Politiker gegen die Interessen der Bevölkerung „Hand in Hand arbeiten“.

Mit Drogenhandel, Entführungen, Menschenhandel und Prostitution verdienten die Kartelle enorme Summen. Verbrecher würden kaum verfolgt, Mörder und Folterer blieben fast immer straffrei. „Die mexikanische Gesellschaft wird überflutet von Gewalt“, so Treue. Sie wies auch auf die hohe Zahl von Femiziden in Mexiko hin: „Jeden Tag werden zehn Frauen ermordet.“ Auch für die Folterungen seien die Waffenhersteller mitverantwortlich. Viele Frauen in Mexiko organisierten sich inzwischen. Ihr Ziel: „Die Gewalt stoppen und unsere Rechte als Frauen erobern.“

Zapatistas: Wir leiden unter diesen Waffen

Die Gruppe der Zapatisten hat inzwischen zwei Stunden Kälte und Reden ausgehalten. Aus Sicherheitsgründen sollen wir sie nicht fotografieren, bittet uns das Presseteam. Der Ankläger des Tribunals ruft nun zwei Vertreter des Congreso Nacional Indigena nach vorn. Zunächst spricht eine junge Frau, nennen wir sie Maria. Sie stünden vor dieser Fabrik, denn ihr Volk würde mit geschmuggelten Waffen aus dieser Fabrik „mit Gewalt  von unserem Land und aus unserer Region vertrieben“.

„Carlos“ versichert: „Die Menschen in unseren Dörfern haben unter diesen Waffen sehr gelitten.“ Wenn doch der Handel mit diesen Gewehren verboten sei, wie gelangten sie dennoch dahin? Er fragt: „Ist die Regierung hier korrupt – oder wie kann das sein?“ Heftig beklatscht und von Rufen wie „Hoch die internationale Solidarität“ begleitet, kehren Maria und Carlos zu ihrer Gruppe zurück.

Der Ankläger verkündet, nun seien alle Zeugen und Expertinnen gehört. Von seinem Script liest er ab: Es sei deutlich geworden, dass Heckler und Koch in allen Anklagepunkten zu verurteilen sei. Die Menschen würden das Urteil umsetzen „in Form einer Welt ohne Kriege und einer Welt, in der viele Welten Platz haben.“

Demo-Nachspiel

Aber damit ist das Tribunal noch nicht zu Ende. Ein weiterer Pressesprecher meldet sich. Das Auto mit den Pressematerialien sei von der Polizei durchsucht worden. Die Polizei habe „alle Geräte und Speichermedien geklaut“. (Dem Polizeisprecher ist um die Mittagszeit „der Vorfall nicht bekannt“.) Mit der Ankündigung, „wir werden nicht ruhig sein und nicht zurückweichen“, endet schließlich nach zweieinhalb Stunden das „Tribunal“.

Eine Aktivistin kündigt an, die Demonstration gehe nun weiter zum Bahnhof. Das ist wohl recht spontan. Angekündigt oder gar angemeldet war das nicht. Doch die Behörden bewilligen den Zug vom Lindenhof runter in die Stadt. Die Sonne wird  kräftiger, die Zuhörerinnen erheben sich. „Wenn jeder von Euch einen Stuhl mitnimmt“, gibt es eine letzte Durchsage, “dann müssen wir nicht so viele schleppen.“

Der Demonstrationszug stellt sich auf.

Bei der Demonstration vom Lindenhof einige Kilometer hinunter in die Stadt kommt es gelegentlich zu Rangeleien mit der Polizei. Nachdem sie so lange in der Kälte ausharren mussten, scheinen beide Seiten ein wenig das Bedürfnis nach Reibungswärme gehabt zu haben. In Bussen fahren die Arbeiter der Frühschicht am Demonstrationszug vorbei, meldet die Lokalzeitung.

Das interessiert diese Woche

Martin Himmelheber (him)
Martin Himmelheber (him)
... begann in den späten 70er Jahren als freier Mitarbeiter unter anderem bei der „Schwäbischen Zeitung“ in Schramberg. Mehr über ihn hier.

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