Freitag, 19. April 2024

Steigeunfall: Was hat der Unfallfahrer bemerkt?

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Fast auf den Tag genau zweieinhalb Jahre hat es gedauert, bis in einem Gerichtsverfahren der schreckliche Unfall an der Steige mit einem lebensgefährlich Verletzten aufgearbeitet wird. Vor dem Landgericht Rottweil verhandelt die erste Schwurgerichtskammer und Richter Karlheinz Münzer seit Freitagfrüh gegen einen heute 50-jährigen Schramberger.

Im Gerichtssaal waren unter strengen Coronavorkehrungen neben dem Angeklagten und seinem Verteidiger, der Staatsanwältin auch das Unfallopfer und seine Anwältin als Nebenkläger sowie drei  Sachverständige aus der Gerichtsmedizin, Psychiatrie und Unfallforschung.

Versuchter Mord wegen Unterlassung

Die Staatsanwaltschaft wirft dem gebürtigen Iraner vor, am frühen Morgen des 17. März 2018 auf der Verbindungsstraße Steige 150 Meter nach Ortsende einen Menschen  überfahren zu haben. Dessen Körper habe sich unter dem Auto verhakt und sei 320 Meter mitgeschleift worden. Dann sei der Mann unter dem Auto frei gekommen. Der Angeklagte sei sechs Meter zurückgefahren und dann von der Unfallstelle  geflohen. Das Unfalloper hatte  schwerste Verletzungen an inneren Organen, Rippen- und andere Knochenbrüche erlitten. Massive Hautabschürfungen und Schnittverletzungen hätten zu starkem Blutverlust geführt.

Laut Anklage müsste der Angeklagte akustisch und taktil wahrgenommen haben, dass er etwas überfahren hat. Nach dem rückwärts Fahren habe er erkannt, dass eine Person schwer verletzt auf dem Boden lag, so die Staatsanwältin „Er nahm in Kauf, dass er stirbt“ und sei weiter gefahren. Er hatte vor, eine Bekannte und deren Tochter von Sulgen zum Flughafen Stuttgart zu fahren. Da sein Auto Kühlflüssigkeit verloren hatte, sei er mit dem Auto der Sulgenerin gefahren und habe sein Auto bei dem Haus der Frau in Sulgen abgestellt.

Die Anklage laute auf fahrlässige Körperverletzung und versuchten Mord wegen Unterlassung sowie Fahrerflucht.

Glückliche Kindheit, schwere Militärzeit im Iran

Der Angeklagte, so erklärte sein Anwalt Bernhard Mussgnug, werde Angaben zur Person, nicht aber zur Sache machen. Richter Münzer hatte eine Dolmetscherin geladen, obwohl der Angeklagte sehr gut Deutsch spreche. Im Laufe seiner Aussage aber zeigte sich, dass der Angeklagte sehr aufgeregt war und es ihm immer schwerer fiel sich auszudrücken. So hat Münzer ihn nach einigen Minuten gebeten, sich in seiner Muttersprache zu äußern.

Er berichtet von einer glücklichen Kindheit in einem Dorf bei Täbris in Iran. Sein Vater war Lehrer, die Mutter Hausfrau, drei Brüder und eine Schwester seien sie gewesen. Er habe das Gymnasium besucht, danach Arbeit gesucht und  bei einer Baufirma gearbeitet.

Dann habe er im iranischen Militär 27 Monate Militärdienst abgeleistet. Er habe viel Angst gehabt in dieser Zeit. Er sei von einem Skorpion gestochen worden und habe zwei Tage im Koma gelegen. Nach dieser Zeit habe er die Unterdrückung durch das iranische Regime nicht mehr ertragen können. „Ich wollte frei leben.“ Zwei oder drei Mal sei er verhaftet worden und habe im Gefängnis Gräueltaten gesehen, berichtet er mit leiser Stimme.

Flucht über die Türkei nach Deutschland

1995 sei er in die Türkei gegangen und habe in Istanbul gearbeitet. Alle drei Monate musste er zurück in den Iran, um wieder ein Visum zu erhalten.

Ende der 1990er Jahre habe er nach den Niederlanden gelangen wollen. Ein Schleußer habe ihn für 1200 Dollar zusammen mit sieben oder acht anderen Leute in einem LKW „nach Europa“ gebracht. In Karlsruhe war Ende der Reise. Mit dem Zug wollte er weiter nach Holland fahren, sei aber von der Polizei festgenommen worden und habe Asyl beantragt. Nach zwei Monaten in Karlsruhe sei er nach Schramberg gekommen, wo er bis heute lebe.

Arbeit und Ankommen

Damals durften auch anerkannte Asylbewerber zwei Jahre keinen Deutschkurs besuchen und nicht arbeiten. „Ich habe mir deutsch selbst beigebracht.“ Nach diesen zwei Jahren habe er wieder in einer Baufirma gearbeitet und später von 2000 bis 2010 in einer Druckerei in Sulgen.

Drei Operationen an der Schulter ließen ihn erwerbsunfähig werden. Er habe einen Behinderungsgrad von 60 Prozent, wie aus seinem Behindertenausweis hervorgeht. Nach zwei Jahren hat er sich wieder um Arbeit bemüht, weil er sich ohne Arbeit nicht wohl fühlte.  Nach einer Umschulung fand er 2013 eine Arbeit in einer Firma und arbeitet dort bis heute. Aus zwei gescheiterten Ehen hat er zwei Söhne.

Der Unfall wirft alles um

Seine Sehfähigkeit sei eingeschränkt, aber er habe sich einer Laser-OP in der Türkei unterzogen. Bis zum Unfall sei alles gut gewesen, danach sehr viel schlechter geworden. Alkohol und Drogen seien nie ein Problem für ihn gewesen.

Wegen Schlafstörungen habe er Tavor  verschrieben bekommen. Er habe aber auch  rezeptfreie Mittel aus der Apotheke genommen.  Ob er am Tag vor dem Unfall  diese Mittel genommen habe, fragt Richter Münzer. „Ich weiß dass ich was genommen habe, aber was, das weiß ich nicht mehr.“

Nach dem Unfall habe er wieder in eine Rehaklinik gemusst: „Ich wollte Selbstmord begehen.“

Der Nebenkläger dreht seinen Rollstuhl und verlässt den Gerichtssaal: „Ich möchte raus“, erklärt er dem Richter, „Sie können aber weiter machen.“

Zeugen finden den Schwerstverletzten

Als erste Zeuginnen und Zeugen ruft Richter Münzer die jungen Leute auf, die das Opfer gegen 4 Uhr an der Steige gefunden, erste Hilfe geleistet Rettungskräfte und Polizei alarmiert hatten. Die Fahrerin erzählt, sie habe einen Anruf ihres Freundes bekommen, sie solle ihn abholen und zusammen eine weitere Freundin auf den Sulgen fahren. Sie sei über die Steige gefahren, weil die Bekannte dort auf dem Sulgen wohne.

Beim Kühlloch habe sie gestoppt, weil sie etwas rechts auf der Straße habe liegen sehen. Sie sei wieder etwas rückwärts gefahren und habe gesehen, dass dort ein schwer verletzter Mensch lag. Sie habe beim Haus nebenan geklingelt, ihr Freund  habe nach dem Verletzten geschaut, und man habe ihn mit Jacken zugedeckt. Dann habe man auf die Rettungskräfte gewartet.

Viele Fragen

Das Gericht will wissen, wie die Sichtverhältnisse waren, wo genau der  Verunglückte lag, wie schnell sie unterwegs war. Und wann sie den Mann dort liegen sah. Wie die Straßenverhältnisse waren, ob das Opfer ansprechbar war. Die Zeugin wie auch später die beiden Mitfahrenden schildern übereinstimmend, dass es zwar dunkel war, aber nicht stark neblig. Sie sei ziemlich weit links gefahren. „Zum Glück, sonst hätte ich ihn nochmal überfahren.“

Die Straße sei in Ordnung gewesen, man sei aber ganz am Anfang wohl schon über ein Stück Plastik gefahren. Ihre Geschwindigkeit schätzt die Zeugin auf 30 bis 40 Stundenkilometer. Das Opfer habe nur gewimmert, sei nicht mehr ansprechbar gewesen.

Dem Täter auf der Spur

Als nächstes befragt das Gericht einen Polizeikommissar aus Schramberg, der als erster an die Unfallstelle gekommen war. Der Anruf sei kurz nach vier Uhr eingegangen. Notarzt und Rettungsdienst seien schon vor Ort gewesen, das Opfer habe massiv geblutet. Er habe die Anrufern über den Unfallhergang befragt, aber nicht viel erfahren.

Bei den Häusern im „Kühlloch“ war das Unfallopfer lebensgefährlich verletzt liegen geblieben. Das Gebäude links am BIldrand ist inzwischen abgebrochen. Archiv-Foto: him

Er sei dann talabwärts gegangen und habe die Plastikteile und Textilabriebspuren gefunden. An der Kolissionsstelle habe er ein Plastikteil mit einer VW-Teilenummer entdeckt. So sei man schnell drauf gekommen, dass das Unfallauto ein VW Golf war. Er habe die Fahndung nach diesem Golf veranlasst. Dank einer Tropfspur vom Kühler ließ sich die Fahrt bis Sulgen gut verfolgen. Er und seine Kollegen hätten dann das Gebiet und die Höfe dort abgegrast und tatsächlich einen beschädigten Golf mit Blutantragungen gefunden.

Der Fahrer war „fassungslos“

Man habe den Halter ermittelt und dann das Auto vor Ort bewacht. Um 6.30 Uhr sei ein Mann aufgetaucht und habe mit der Fernbedienung das Auto aufgeschlossen. „Wir haben ihn dann  vorläufig festgenommen“, so der Polizeikommissar. Der Mann habe berichtet, er sei vom Flughafen gekommen. Als er dem Fahrer sagte, was man ihm vorwerfe, habe  ihm das „sichtlich zugesetzt“, so der Zeuge.

Ein Alkoholtest sei negativ verlaufen, wegen seines „labilen Zustandes“ habe man ihn aber ins Krankenhaus bringen lassen. Die übrigen Ermittlungen hätten dann der Kriminaldauerdienst und der Unfalldienst übernommen, so der Zeuge. Wie denn die Sichtweite war, will Richter Münzer wissen. Etwa 100 Meter, schätzt der Beamte.

Als man ihn festnahm, sei er „völlig fassungslos gewesen“. Er habe das Auto stehen gelassen, weil der Kühler defekt sei, den Grund wisse er nicht, habe er erklärt. „Er ist sofort in ein Tief gefallen, als wir ihm sagten, dass der andere schwerst verletzt ist.“

Sie hätten deutlich sichtbar den Streifenwagen mit eingeschalteten Scheinwerfern und laufendem Motor bei dem Golf stehen gehabt. „Er muss uns gesehen haben, da bin ich 1000 Prozent sicher.“

Die Spuren am Auto sind eindeutig

Nach der Mittagspause sagt ein weiterer Polizeibeamter aus, der als Kriminaltechniker das Auto untersucht und Spuren sichergestellt hatte. Er hatte an der Frontpartie am links einen Schaden am Kühlergrill festgestellt. Erst auf einer Hebebühne bei einem Abschleppdienst habe er die Spuren unter dem Wagen gefunden. Stoffpartikel, aber auch Blut-und Gewebeteile fanden sich dort. Auf Fotos hat der Beamte  seine Funde dokumentiert. Im Kofferraum fanden sich Teile der Frontschürze, berichtet er.

Ein Polizeihauptkommissar vom Unfalldienst berichtet von der Ermittlungsarbeit am 17. März 2018 und in den Folgetagen. Er habe beispielweise im Klinikum die Verletzungen dokumentiert. Von der Rechtsmedizin habe er herausgefunden, dass diese Verletzungen nicht auf einen Unfall mit einer aufrecht stehenden Person herrühren könnten. Das Opfer also wahrscheinlich auf der Straße gelegen hatte. Ein entsprechendes Gerücht hatte in Schramberg schon die Runde gemacht.

Kein Alkohol und keine Drogen im Spiel

Bei der Verlesung von Dokumenten stellt sich heraus, dass beim Angeklagten weder Alkohol noch Drogen im Blut nachweisbar waren. Beim Unfallopfer hatte ein Labor Blutalkohol  gefunden, allerdings mehrere Tage nach dem Unfall und nach etlichen Bluttransfusionen und Medikamentengaben.

Der nächste Zeuge war wieder ein Beamter vom Schramberger Revier. Auch er berichtet, dass es dem Angeklagten „richtig schlecht“ ging, als er erfuhr, was man ihm vorwirft. „Er war völlig fertig mit den Nerven.“ Deshalb habe man die vorläufige Festnahme aufgehoben und in die Klinik bringen lassen. Bei dieser Schilderung überwältigen den Angeklagten die Gefühle, er beginnt zu weinen. Die Dolmetscherin reicht ihm ein Taschentuch. Er beißt sich in die Faust.

Was ist wirklich am 17. März 2018 passiert?

Als letzter Zeuge schildert ein Beamter wie er die Ermittlungen koordiniert hat. Er beschreibt die Unfallstelle, die Straße mit einigen Schlaglöchern, die Schleifspuren, die  aufgefundenen Plastikteile Als er die 320 Meter von der Unfallstelle bis zur Auffindestelle gegangen sei, da habe er nicht glauben können, dass man so weit fahren kann, „ohne es zu merken und ohne anzuhalten“.

Das zu klären, ob das möglich ist, und vielleicht vom Angeklagten selbst doch noch etwas zum Unfall zu erfahren,  darauf hofft Richter Münzer, wie er am Ende des ersten Verhandlungstages erklärt. Am 2., 5. und 7. Oktober wird weiter verhandelt. Dann wird  wohl auch das Unfallopfer als Nebenkläger zu Wort kommen.

 

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Martin Himmelheber (him)
... begann in den späten 70er Jahren als freier Mitarbeiter unter anderem bei der „Schwäbischen Zeitung“ in Schramberg. Mehr über ihn hier.