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 IHK-Empfang mit Professor Julian Nida-Rümelin

Mehr Freiraum für die Wirtschaft

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“Gemeinsam geht es besser“ – so lautete das Credo der IHK-Präsidentin Birgit Hakenjos beim Jahresauftakt der Industrie- und Handelskammer in Villingen- Schwenningen. Gastredner Julian Nida-Rümelin warnte davor, es mit der Selbstkritik a la „kranker Mann Europas“ zu überziehen. Das führe nur zu einer „Handlungsblockade“.

Der Moderator Rolf Benzmann begrüßte die etwa 280 Gäste im Haus der Wirtschaft, unter ihnen Landtagsabgeordnete, Landräte, Oberbürgermeisterinnen und ganz besonders die scheidende Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer aus Freiburg. Dazu viele Unternehmerinnen und Unternehmer, für die IHK ehrenamtlich Tätige und die Medien.

Rolf Benzmann. Foto: him

IHK-Präsidentin Birgit Hakenjos nannte in ihrer Begrüßung das Erfolgsrezept des Mittelstands: „Gemeinsam geht es besser“. Da sei keine Herausforderung zu groß, „wenn man gemeinsam im Schulterschluss voranschreitet“. Fachkenntnis, Kompetenz und Engagement seien dafür wesentlich, „unabhängig von Alter, von Geschlecht oder der sozialen Herkunft“.

Im Herzen Europas

Die Region Schwarzwald-Baar-Heuberg sei „das Herz Europas“, die Heimat von 35.000 Unternehmen und 200.000 Beschäftigten. Hakenjos hob die wirtschaftliche Bedeutung der Region hervor: „Ohne unsere Zulieferer fährt kein Automobil. Ohne unsere Medizintechnik funktioniert kein Krankenhaus. Ohne unsere Wehrtechnik gelingt keine Rüstungspolitik.“

Sie übte Kritik an den derzeitigen Verhältnissen und versicherte: “Deutschland kann es besser.“ Die IHK-Präsidentin sah zwei Handlungsfelder: Zum einen sei Deutschland zu kompliziert, es gebe zu viele Regeln, Gesetze, Verordnungen, Rechtsprechungen, Vorgaben und Pflichten. Hakenjos forderte mehr Freiraum und keine Kontrolleure, „Rechthaber“ oder „Besser-Wisser“. Diese kosteten Wirtschaftskraft, gefährdeten Arbeitsplätze und Gewerbesteuer.

Zum zweiten fehle Deutschland die Orientierung. Man wisse nicht, ob es nun Entlastungen gebe oder nicht, ob Förderzusagen verlässlich seien oder nicht. Es fehle an Planbarkeit und Sicherheit für Betriebe, Handelspartner und Kommunen.

IHK-Präsidentin Birgit Hakenjos. Foto: him

Starthilfe vom Mittelstand

Hakenjos Lösung: Machen. Alle Konzepte lägen auf dem Tisch, man müsse sie nur umsetzen. Sie appellierte an Kanzler Scholz, er möge den Mittelstand doch einfach anrufen und um Hilfe bitten: „Wir geben gern Starthilfe.“

Mit Blick auf die Europa- und Kommunalwahlen meinte Hakenjos, auch die Lage in Europa sei mit der Deutschlands vergleichbar. Auch da sei die Regelungsflut enorm. So sei Europa nicht gedacht gewesen.

Sie wünsche sich ein Miteinander von Ländern, die sich gegenseitig fördern. „Ohne Kleinstaaterei und Regulierungswut.“ Europa müsse die Unternehmer ernst nehmen und als Partner, nicht als Gegner begreifen, forderte sie abschließend.

Nida Rümelin: Labil

In seinem frei gehaltenen Vortrag ging der Physiker, Philosoph und Politikwissenschaftler Nida-Rümelin  auf die Frage ein, wie der Aufbruch in das Zeitalter der Resilienz gelingen kann. „Im Augenblick sind wir labil“, so Nida- Rümelin. Das betreffe die Politik, das Klima, aber auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie. Mit seinem Vortrag wolle er einen „brainteaser“, eine Anregung zum Nachdenken also, liefern.

Mit Blick auf die Innenpolitik warnte er davor, „die Politiker“ als „Idioten“ zu beschimpfen, die ahnungslos seien und nichts täten. Im Kleinen werde hochrational und mit Sachverstand gehandelt, im Großen sei es allerdings besorgniserregend.

Verfehlte Bildungspolitik

Als Beispiel nannte Nida Rümelin die Bildungspolitik. 2006 – unter Kanzlerin Merkel – habe es einen Bildungsgipfel gegeben. Alle Fachleute hätten damals für eine Akademisierung und den Ausbau von Studiengängen geworben. Ein Blick in die Statistik hätte damals schon verdeutlicht, dass es bis 2030 einen enormen Fachkräftemangel auf der Facharbeiterebene geben werde.

Dort, wo noch auf berufliche Bildung gesetzt werde, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sei die Jugendarbeitslosigkeit am niedrigsten. Die Akademisierung etwa des Hebammenberufs, nannte Nida-Rümelin „grotesk“.

Julian Nida-Rümelin. Foto: him

Nida-Rümelin, der unter Kanzler Schröder einige Zeit Kultur-Staatsminister war, fand, Deutschland habe die Krisen 208 bis 2010 „bestens überstanden“. Davon habe das Land zu lange gezehrt, die Politik habe sich zurückgelehnt und Mütterrente und Frühverrentung eingeführt.

Auch habe Deutschland massiv von der günstigen Energie aus Russland profitiert. Das der Stopp nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine zu „massiven Verwerfungen“ führen würde, sei zu erwarten gewesen. Andererseits sei Deutschland gut durch den Winter gekommen.

Agenda der Grünen, FDP bremst, SPD laviert

Mit Blick auf die Ampel analysierte (SPD-Mitglied-) Nida Rümelin, die Grünen setzten ihre Agenda auf die Tageordnung, die FDP verhindere „und die SPD laviert“. Eine Drei-Parteien-Koalition sei sehr schwierig, es gebe eben nicht mehr „Koch und Kellner“, wie zu Schröders Zeiten. Kanzler Scholz versuche sich mit „Ausgleich statt klarer Ansage, das geht schief“.

Heftige Kritik übte Nida Rümelin an der von ihm so beschriebenen nationalen Klimastrategie: Es sei ein Irrtum zu glauben, man könne Klimaneutralität im nationalen Alleingang schaffen.

Mit Blick auf die Europäische Union meinte er, man habe es derzeit mit einer Vielzahl von Krisen zu tun. Mit dem Klima und der Migration beschäftige sich die EU inzwischen.

Wo steht Europa?

Zu den großen Konflikten zwischen dem Westen, Russland und China sprach er von einem „Spiel mit dem Feuer“. China rüste massiv auf. Indien werde zunehmend wichtiger. Die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, Südafrika und China) hätten inzwischen ein höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP) als die G7-Staaten.

Er warnte davor, sich von China wirtschaftlich abzukoppeln. Das verschärfe die Kriegsgefahr. Er sei überzeugt, dass die wirtschaftliche Verflechtung die Kriegswahrscheinlichkeit senke, weil sie die Kosten für einen Krieg erhöhe.

Zur EU meinte Nida-Rümelin: „Europa ist unser Glück.“ Man müsse nur nach Großbritannien schauen, das beim BIP vier bis fünf Prozent seit dem Brexit verliere. Die EU sei wirtschaftlich auf einer Ebene mit den USA und China.

Kritisch sieht er, dass die EU weiterhin etwa 40 Prozent für die Landwirtschaft ausgebe, aber nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung seien in der Landwirtschaft tätig. Diese Förderungen sollten die einzelnen Länder machen. Da wisse man besser, was und wie gefördert werden soll.

Kommt der neue Ostblock?

Er plädierte dafür, Entscheidungen wieder nach unten abzugeben. Andererseits sei es verheerend, dass jedes europäische Land seine eigene Außenpolitik betreibe. „Da lachen die Großen.“

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz habe Hillary Clinton zu einer möglichen Wahl Donald Trumps erklärt, der spinne zwar. „Aber er macht, was er sagt.“ Es könne sein, dass die USA wieder in ihre Politik der „Splendid Isolation“ zurückfielen. „Macht, war ihr wollt, wir kümmern uns um unsere wirtschaftliche Auseinandersetzung mit China.“

Für Nida-Rümelin droht die Entstehung eines neuen Ostblocks mit China und Russland. China brauche die Atommacht Russland, Russland die Wirtschaftskraft Chinas. „Es droht ein neuer kalter Krieg.“

Seine Hoffnung sei, dass es nach einem Ende des Ukrainekriegs doch gelingt, eine multipolare Weltordnung zu schaffen. Europa sei mit seiner wirtschaftlichen und sozialen Kompetenz in der Lage, sein Gewicht einzubringen und mit andren Zentren der Weltentwicklung zusammenzuarbeiten.

Rückkehr zur Realpolitik

Dazu müsse man aber zu einer „Realpolitik“ zurückkehren, forderte er, also eine klassische Interessenpolitik verfolgen. „Moralpredigten von ehemaligen Kolonialmächten kommen bei vielen Ländern nicht gut an“, analysierte Nida-Rümelin.

Als 2001 die Rede von Deutschland als dem „kranken Mann Europas“ die Rede war, habe er davor gewarnt, Deutschland schlecht zu reden. Das gelte auch heute. Er forderte die Unternehmer auf, durchzuhalten: „Wir müssen da durch.“

In einem kurzen Gespräch mit Moderator Benzmann zum Thema Bürokratieabbau plädierte Nida-Rümelin für das Subsidiaritätsprinzip, also Entscheidungen und Regelungen möglichst auf unterer Ebene und dezentral zu treffen.

Wo bleibt das Ethos?

Als Ethiker meinte er mit Blick auf die Bankenregulierung: „Je weniger man sich auf das Ethos der Beteiligten verlassen kann, desto mehr Kontrolle ist nötig.“  Ethos sei die innere Einstellung, „so etwas tut man nicht“. Bei den Banken aber habe es zehntausende Betrugsfälle gegeben, bei denen sich Bankmitarbeiter auf Kosten der Kunden bereichert hätten.

IHK-Hauptgeschäftsführer Thomas Albiez, Julian Nida-Rümelin und IHK Präsidentin Birgit Hakenjos. Foto: jim

Die Gäste dankten Nida Rümelin mit langem Beifall und die IHK mit einem Geschenk aus Marzipan.

Im Anschluss hatte die IHK zu einem „fliegenden Buffet“ geladen, und die Gäste unterhielten sich noch lange im Foyer des Hauses der Wirtschaft.

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Martin Himmelheber (him)
Martin Himmelheber (him)
... begann in den späten 70er Jahren als freier Mitarbeiter unter anderem bei der „Schwäbischen Zeitung“ in Schramberg. Mehr über ihn hier.

1 Kommentar

  1. Interessante Gedanken von J.Nida-Rümelin aber er kratzt mit seinem Hinweis auf die Bankenregulierung nur an der Oberfläche des viel größeren Problems unseres total kranken Geldsystems. Da kommt nichts von den dafür Verantwortlichen in Politik und Finanzwelt.
    Man hat Angst davor, daß dies zu unliebsamen Reaktionen im Publikum führen könnte.
    Dieses kreditbasierte Geldsystem ist die Ursache der meisten Probleme, mit denen wir
    heute zu kämpfen haben.

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