Wie das Leben so spielt
Eine Sommer-Geschichte von Liverpool bis Schramberg

Es ist Juni 1957. In Liverpool sitzen eine Reihe Teenager in einem Klassenzimmer an Einzeltischchen und brüten über Examensaufgaben. Einer von ihnen ist der 15-jährige Paul McCartney. Er soll in diesen Tagen zwei Tests in Spanisch und Latein für das britische Abitur, das O-Level schreiben. Sie entscheiden, ob er die nächste Klasse überspringen kann. McCartney besteht zwar den Spanisch-Test, durch Latein rasselt er aber durch. Das lese ich in der Beatles-Biografie „One, two, three, four“ von Craig Brown.
Das Buch steht seit einigen Jahren in meinem Bücherregal. Ich hab‘ es zufällig rausgeholt, an dem Tag an dem Kontextredakteurin Gesa die freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fragt, ob wir nicht Lust hätten für die Sommerzeit Geschichten zu schreiben, die wir immer schon mal schreiben wollten.*
Der Zug wäre abgefahren
Mir ist gleich ein Thema eingefallen: Wie Zufälle über Lebenswege entscheiden. Große und kleine, wie bei mir. In meinem Leben gab es mehrere solcher Zufälle. Einen möchte ich erzählen. Nach Abitur 1972 in Heidelberg und Wehrdienst im Hunsrück wollte ich eigentlich Berufsschullehrer werden. Dazu brauchte man ein halbjähriges Betriebspraktikum. Das absolviere ich ab Herbst 1973 in Weinheim bei einer großen Firma.
Danach will ich an der Technischen Hochschule in Darmstadt studieren. Dort hat man mir bei der Studienberatung empfohlen, einen Kurs in technischem Zeichnen vorab zu belegen, weil der nicht jedes Semester angeboten wird. Ich fahre also mit Erlaubnis meines Betriebs einmal in der Woche nachmittags von Weinheim nach Darmstadt. Wir zeichnen alles noch mit Bleistift und Radiergummi, Tuschestiften und Rotring-Reißbrettern. CAD ist noch lange nicht erfunden.
Ich sitze nächtelang über Tabellenbüchern, rechne, zeichne, radiere wieder weg. Meine Zeichnungen bewertet der Dozent eher schlecht, gerade noch bestanden. Die Kollegen im Kurs, damals waren wir nur Kerle, sind mir meilenweit voraus. Sie blicken in Mathe und Physik durch, ich nicht. Berufsschullehrer, das ist ein halbes Ingenieurstudium, merke ich. Dafür reicht‘s bei mir nicht.
Am 14. Februar 1974 ist mir das endgültig klar. Ich rufe abends nach der Arbeit vom Telefonhäuschen meinen Vater in Heidelberg an: „Papa, kannst Du mal schauen, ob ich mich in Freiburg an der PH bewerben kann? Das mit Darmstadt ist mir zu hoch.“
Mein Vater ruft am nächsten Morgen in Freiburg in der PH an und bekommt die Auskunft: Ja, das geht, aber Anmeldeschluss ist heute. Er nimmt mein Abizeugnis und was es sonst noch braucht, setzt sich in den nächsten Zug und meldet mich in Freiburg an der PH an. Hätte ich meinen Vater einen Tag später angerufen, der Zug wäre abgefahren. Ich hätte vielleicht etwas völlig anderes gemacht. Und dieser Text würde nie erscheinen.
Zirkus in Schweden oder Maler auf Helgoland
Dass Zufälle Lebenswege bestimmen, das erfahre ich auch von anderen Menschen. Nur zwei Beispiele.
Nach dem Studium bekomme ich meine erste Stelle im Schwarzwaldstädtchen Schiltach. Ich unterrichte Technik und Englisch als meine Studienfächer, aber sonst noch alles Mögliche, wie das damals an einer Hauptschule üblich war.
Der erfahrenste Techniklehrer an der Schule wird bald ein guter Freund. Sigbert war in seiner Jugend ein Spitzenturner, aber auch in Leichtathletik und im Handball ein Käpsele. Er würde gerne Lehrer werden, aber dafür bräuchte er Abitur. In den frühen 60er Jahren ist das für den Sohn einfacher Leute vom Land utopisch.

Nach der Volksschule macht Sigbert also eine Malerlehre. Er arbeitet einige Zeit noch in dem Ausbildungsbetrieb, doch dann zieht es ihn hinaus. Mit dem Gesellenbrief in der Tasche trampt er mit einem Kumpel durch Deutschland. An einer Autobahnraststätte zwischen Hannover und Hamburg begegnen sie zwei Lastwagenfahrern, die bereit sind, die beiden Burschen mitzunehmen.
Der eine Trucker fährt mit einem Zirkus durch Schweden. Da könnten sie mithelfen, bietet er an. Der andere will nach Helgoland. Die beiden Schwarzwälder müssen in Sekunden entscheiden. Sigbert wählt Helgoland.
Dort findet er bald einen Meister. Der stellt den exakt und pünktlich arbeitenden Burschen aus dem Schwarzwald gerne ein.
Sigbert hält Kontakt zu seinen alten Kumpeln im heimatlichen Sportverein. Und so klingelt eines Abends das Telefon seines Meisters auf Helgoland. Bernd, ein Sportkamerad aus Sigberts Heimatdorf Schenkenzell, ist am anderen Ende der Leitung. „Du, es gibt die Möglichkeit, dass besonders gute junge Sportler in Baden-Württemberg eine Fachlehrerausbildung machen können, auch ohne Abitur.“ Damals herrschte im Land grade mal Lehrermangel. Anmeldeschluss sei allerdings in wenigen Tagen.
Sigbert bittet seinen Meister auf Helgoland um Urlaub, fährt in die Heimat, bewirbt sich um die Lehrerausbildung, besteht die Aufnahmeprüfung – und wird Lehrer. Hätte er sich an der Autobahnraststätte bei Hamburg für den Zirkus in Schweden entscheiden, wer weiß, was aus ihm geworden wäre. Irgendwo in Schweden zur damaligen Zeit wäre er für niemanden erreichbar gewesen.
Sattler in Schramberg oder erster Reichspräsident
Seit drei Jahrzehnten lebe ich in Schramberg, einer Kleinstadt zwischen Offenburg und Villingen-Schwenningen. Hier gibt es ein alteingesessenes Lederwarengeschäft. Der Seniorchef Ernst Krön gehört zu unserer Ältere-Leute-Gymnastik-Gruppe. Wir hampeln eine Stunde rum, um den anschließenden Gang in die Wirtschaft zu rechtfertigen.
Ernsts Großvater Heinrich Krön hatte es nach 1890 von einem Schramberger Sattlermeister übernommen. Dieser Heinrich Krön ist als junger Mann um 1888 auf der Walz. Unterwegs trifft er einen anderen Wandergesellen, der auch als Sattler arbeitet. Es ist ein gewisser Friedrich Ebert aus Heidelberg. Die beiden ziehen gemeinsam weiter.
Irgendwo bei Freiburg im Breisgau erfahren sie aus einer Zeitungsannonce oder von einem Meister, so genau wusste Ernst das nicht mehr, irgendwo in der Breisau also erfahren sie, dass im 60 Kilometer entfernten Schramberg die Witwe eines Sattlers einen Gesellen für ihr Ladengeschäft sucht. Das ist natürlich eine Chance fürs Leben. Wer darf sich dort bewerben?
Die beiden beschließen, Streichhölzle zu ziehen. Friedrich Ebert zieht den Kürzeren. Heinrich Krön heiratet später die Schwester der Witwe, übernimmt den Laden in Schramberg. Ebert zieht weiter in die Schweiz, kommt dort in Kontakt zur Arbeiterbewegung, wird 1913 SPD-Vorsitzender und 1919 erster Reichspräsident. Was wäre passiert, wenn Ebert gewonnen hätte, hätte die deutsche Geschichte eine andere Wendung genommen? **

Und was wäre geschehen, wenn Paul McCartney im Frühsommer 1957 ein paar mehr unregelmäßige Verben gebüffelt und die Lateinprüfung nicht versiebt hätte? Craig Brown schreibt: „Als er im September wieder zur Schule geht, sitzt er mit Jüngeren in einer Klasse und hasst es.“
In der Klasse saß ein kleiner Junge, den Paul bisher nur vom Bus kannte. Im letzten Schuljahr habe er den kaum beachtet, schreibt Brown: „Jetzt aber, da sie im selben Jahrgang sind, freunden sie sich an. Der Junge heißt George Harrison.“

* Diese Geschichte ist zuerst in Kontext erschienen.
** In D’Kräz Nummer 21 hat Günter Buchholz die Geschichte ausführlich erzählt. Hier nachzulesen.