Missbrauchsskandale, Kirchensteuer, gesellschaftlicher Wandel: Viele Menschen treten aus der katholischen Kirche aus. Jüngst veröffentlichte Daten zeigen ein Rekordniveau. Auch in Rottweil sind die Zahlen hoch – Münsterpfarrer Timo Weber sieht neben viel Schatten jedoch auch Helles.
An Festtagen wie Fronleichnam oder im Juli beim 900-jährigen Jubiläum von Heilig-Kreuz zeigt sich die katholische Kirche in Rottweil vital und glanzvoll, die Zahl der Gottesdienst-Besucher ist dann hoch. Aber auch in einer lange in hohem Maß katholisch geprägten Stadt wie Rottweil steht die katholische Kirche unter Druck.
Allein in der ersten Jahreshälfte 2022 erklärten, wie das Münster-Pfarramt auf Anfrage der NRWZ mitteilte, im Bereich der Heilig-Kreuz-Pfarrei 68 Mitglieder ihren Austritt aus der katholischen Kirche als öffentlicher Körperschaft – so viele wie nie zu zuvor. Im ganzen Jahr 2021 waren es 67, 2020 34 – eine Zahl, die sich jedoch nicht als Entspannung verstehen lässt. Vielmehr ist sie dem Umstand geschuldet, dass 2020 aufgrund der Corona-Pandemie die Rathäuser lange geschlossen waren, was einen Austritt unmöglich machte.
Zur Einordnung: Rund 4300 Katholiken zählte die Heilig-Kreuz-Pfarrei 2021 – aktuellere Zahlen liegen nicht vor. Und rund 7500 sind es insgesamt in der Seelsorgeeinheit Rottweil-Hausen-Neukirch. Zu ihr gehören neben Heilig-Kreuz auch die Kirchengemeinden Auferstehung Christi, St. Maria Hausen sowie St. Peter und Paul Neukirch.
Damit zeigt sich in Rottweil ein ähnlicher Trend wie deutschlandweit und auf Ebene des Bistums. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart ist die Zahl der Austritte 2021 auf 28.212 gestiegen, wie das Bistum mitteilte. Dies entspricht einer Steigerung um 29 Prozent gegenüber dem Vor-Corona-Jahr 2019. Zum Jahresende 2021 gehörten noch 1,714 Millionen Katholikinnen und Katholiken der Diözese Rottenburg-Stuttgart an, die damit nach Köln und Münster die drittgrößte in Deutschland ist.
Zwar lässt sich seit Jahren quer durch die Republik ein Schwund auch bei anderen Großorganisationen beobachten, etwa bei Parteien und Gewerkschaften. Was häufig auf gesellschaftlichen Wandel und die nachlassende Bereitschaft, sich zu binden gerade in der jüngeren Generation zurückgeführt wird. Dennoch tue der massive Mitgliederverlust einfach nur „sehr, sehr weh,“ wie Bischof Dr. Gebhard Fürst laut Bistums-Mitteilung sagte.
So empfindet es auch Münsterpfarrer Timo Weber. Die zahlreichen Austritte seien „bedrückend,“ sagte der Geistliche, der seit Dezember 2018 an der Spitze der Seelsorgeeinheit steht, im Gespräch mit der NRWZ. Wer im Bereich der Seelsorgeeinheit austritt, erhält einen Brief. In dem wird Bedauern über den Schritt ausgedrückt – verbunden mit der Einladung zu einem Gespräch. „Dieses Angebot wird aber leider nur selten wahrgenommen“, berichtet Weber. Wenn, dann könne es jedoch emotional werden, sogar beschimpft wurde der Seelsorger bereits.
Webers Eindruck ist, dass „viele Leute mittlerweile ganz weit weg“ sind von der Kirche. Ursachen dafür sieht er teils schon lange zurückliegen: „Früher stand der Pfarrer auf einem Podest, es wurde Ehrfurcht verlangt“ – das sei zu streng und selbstbezogen gewesen. Und für einige auch im höheren Lebensalter noch ein Grund, der Institution Kirche den Rücken zuzukehren.
Die gewichtigsten Gründe für wachsende Kirchenferne und Austritte liegen dem Münsterpfarrer zufolge in Maßgaben auf Ebene der Weltkirche: Missbrauch, Machtstrukturen, Zölibat – diese hoch problematische Gemengelage stoße viele ab. Besonders die Rolle der Frauen sei ein Konfliktthema. „Es gibt einen starken Wunsch, das zu reformieren“, berichtet der Pfarrer. Und empfindet, wie er zugibt, angesichts dieser Themen „eine gewisse Ohnmacht“. Denn: „Da kann ich auch nichts machen“. Zur Ebene der Gemeinden, da, wo Kirche vor Ort konkret gelebt wird, komme von den Austretenden keinerlei negative Rückmeldung.
Gleichwohl will er weiter selbstkritisch nach Ansatzpunkten für Verbesserungen suchen. Kirche müsse vor allem Heimat bieten, unterstreicht der Münsterpfarrer. Alle dürften kommen, egal welchen Alters, Geschlechts, oder welcher sexuelle Orientierung. Wichtig sei, das Gemeinschaftliche zu unterstützen und zu fördern.
Das gelingt nach Webers Eindruck auch nicht selten. Ein Wandergottesdienst an Pfingstmontag, bei dem gute Gespräche möglich waren, ein Dankeschön-Fest für Engagierte und das Fest zum 900jährigen Jubiläum von Heilig Kreuz im Juli nennt der 45jährige als positive Beispiele. Nicht zuletzt aus der Zahl der Taufen und kirchlichen Eheschließungen zieht der Seelsorger Ermutigung. „Wir haben fast jedes Wochenende Taufen!“, berichtet er. 23 waren es in der ersten Jahreshälfte 2022, 35 2021, wobei dort erst ab Jahresmitte Taufen möglich waren.
Hält man die Zahl der Austritte sowie der kirchlichen Beisetzungen entgegen – 2022 waren es bis Jahresmitte 30, 2021 50, 2020 67 – ergibt sich unter Strich zwar klar ein Rückgang. Den will Timo Weber auch nicht weg reden. Und dennoch betont er, dass man beim Gesamtbild differenzieren müsse. Neben allem Negativen erlebe er in der seelsorgerlichen Arbeit jedenfalls auch viel Lebendigkeit und Helles, sagt Münsterpfarrer Timo Weber.